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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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Captainsstreifen waren auch in dem Kasten und seine Armbanduhr und sein blau-weißes »Parsons«-Namensschild und seine metallenen Hundemarken und eine Papierschachtel mit seinen Kriegsorden. Weiter hinten im Schrank hing seine schwere Air-Force-Uniform, gereinigt und gebügelt und anziehfertig, wenn auch ohne Orden und Streifen. Ich zog die Jacke an. Sie war mir viel zu groß und zu warm, um sie im Haus zu tragen. Ich hatte sie schon früher angehabt, sie gab mir ein Gefühl von Wichtigkeit, das ich mochte. In den Taschen war kein Geld. Wenn unser Vater sie morgens anzog und auf den Stützpunkt fuhr, hatte er immer gute Laune gehabt. Das war nur wenige Monate her. Doch diese Zeit war endgültig vorbei, egal seit wann.
    Berner holte eine dunkle Wollhose meiner Mutter heraus, ein Teil der Wintergarderobe, und hielt sie vor dem Türspiegel hoch, als wäre sie besonders lustig. Berner war sie zu klein, obwohl sie versuchte hineinzukommen. Dann entdeckte sie ein Paar flache schwarze Stoffschuhe, zwängte ihre großen knochigen Füße halb hinein und hoppelte mit nachschlappenden Absätzen durchs Schlafzimmer. »Kein Stilgefühl, unsere Mutter«, sagte sie, was gar nicht stimmte. Sie hatte ihren eigenen Stil. Wir müssen gewusst haben, dass unsere Eltern nicht zurückkommen würden. Wir hätten nicht ihre Kleider angezogen und herumgealbert und sie nachgeäfft, wenn noch die geringste Chance auf eine Rückkehr zum normalen Leben bestanden hätte.
    Kurz nach neun Uhr ertönte ein Klopfen an der Haustür. Natürlich dachten wir, es wäre die Polizei, und schalteten das Licht im Schlafzimmer aus. Ich kroch auf allen vieren durch den Flur – in der Uniformjacke meines Vaters – und dann in die Küche. Durch die Scheibe in der Haustür war ich nicht zu sehen. Ich spähte über das Fenstersims des Küchenfensters in den dunklen vorderen Garten, wo über dem Baldachin aus Laub und Ästen der Mond hing. Auf der anderen Straßenseite warf das leere Basketball-Korbbrett im Licht der Laterne Schatten. Rudy Patterson stand auf dem Betonweg, rauchend, eine Papiertüte in der Hand, und wartete auf Einlass. Er sprach mit jemandem, den ich nicht sehen konnte. Vielleicht sang er auch, überlegte ich. Das Verandalicht war aus.
    Ich wusste, dass er gekommen war, um Berner mitzunehmen – dass sie alles schon geplant hatten. Mich wollten sie im Haus zurücklassen, und dann musste ich mich allen Widrigkeiten allein stellen und mich selbst verteidigen, während sie nach Salt Lake City oder San Francisco fuhren. Das hatte sie beschlossen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich hatte nicht vor, ihn hereinzulassen. Ich wollte, dass Berner und ich im Haus blieben, hinter verschlossenen Türen. Es würde bestimmt nicht besser für sie, wenn sie mit ihm durchbrannte. Und für mich schon gar nicht.
    Sie war in den Flur gekommen und schaute um die Ecke, als wäre ihr egal, wer sie sehen konnte. »Wer ist da?«
    »Es ist Rudy. Er soll nicht reinkommen. Mutter hat gesagt, keiner soll reinkommen.«
    »Den hatte ich vergessen«, sagte sie und drehte sich um. »Ich habe ihn hergerufen. Er kann reinkommen. Sei nicht albern. Er und ich, wir lieben uns.« Sie ging schnurstracks zur Tür und ließ Rudy Patterson in unser Haus.
    Egal was für ein Gefühl mich beschlich, als ich Rudy draußen im Mondschein auf dem Weg stehen sah: Als er ins Haus kam, änderte sich alles, eine Zeitlang zumindest. Er war nicht der Typ Junge, von dem man sich eine gute Wendung erhoffte. Aber als er hereinkam, blieb die Zeit stehen und damit auch unser Leben. Die Außenwelt verschwand, als wären Zukunft und Vergangenheit gleichzeitig an ihr Ende gelangt und es gäbe nur noch uns drei.
    Rudy wurde augenblicklich laut, als er hereinkam. Er schritt unser Wohnzimmer ab, rauchte und inspizierte alles. Dieselben Dinge, die ich zuvor gemustert hatte. Das Klavier. Die Bilder an der Wand. Die Entlassungsurkunde meines Vaters. Den Koffer meiner Mutter und den Kissenbezug mit meinen Sachen drin. Er wirkte älter und größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, das letzte Mal hatten wir im Park Körbe geworfen, während Berner uns zuschaute. Er war erst sechzehn, hatte wilde rote Locken, lange Arme mit vielen Sommersprossen und große Hände mit bereits behaarten Handrücken und den kleinen Schnauzer, den Berner nicht mochte. Seine Armmuskeln unter den T-Shirt-Ärmeln waren dick geädert, und seine Fingerknöchel waren voller Kratzer und Schrammen, als wäre er auf Felsen geklettert

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