Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
schlief nicht, er war tot.«
»Wieso glauben Sie das?«
Die Frau zuckte mit den Achseln und ließ ihren Blick unruhig umherschweifen. »Er hat nicht geatmet.«
»Können Sie den Mann näher beschreiben?«
Hedda Marxen schwieg.
Island zog ein Oktavheft aus ihrer Handtasche und zückte einen Kugelschreiber.
»Also bitte. Wie sah er aus?«
Die Frau zögerte. »Er war ungefähr dreißig Jahre alt. Seine Haare waren hell und lockig. Ich würde sagen, er sah gut aus.« Sie sah zu Boden und schlug die Beine übereinander.
»Meinem Kollegen haben Sie aber etwas von dunkler Haut erzählt …«
»Der Mann hatte hohe Wangenknochen und eine breite Nase. Er sah aus wie ein Schwarzer, aber er war keiner.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Haare waren hell …«
»Vielleicht gefärbt?«
»Nein«, sagte Hedda Marxen mit Entschiedenheit, aber sie blinzelte nervös.
»Was hatte er an?«
»Er war mit einer Wolldecke zugedeckt. An Kleidung erinnere ich mich nicht. Ich glaube sogar, er war nackt.«
»Warum haben Sie nicht sofort die Polizei gerufen oder einen Arzt? Vielleicht hätte er dringend Hilfe gebraucht.«
«Ich habe kein Handy.«
»Aber Sie haben zu Hause ein Telefon!«
»Stimmt«, sagte die Frau und knetete ihre Finger. »Mir ist aber den ganzen Tag was dazwischengekommen.«
Island spürte Wut in sich aufsteigen. »Stattdessen haben Sie getrunken?«
Das Gesicht der Frau blieb ausdruckslos. Nur ihre Zehen griffen wieder nach den Teppichflusen. Island fiel auf, wie perfekt ihre schmalen Unterschenkel enthaart und wie genau die Farben des Nagellacks von Finger- und Zehennägeln aufeinander abgestimmt waren. Die feine, goldene Kette um den Hals von Hedda Marxen zierte eine Perle im matten Altrosa der sorgsam geschminkten Lippen. Dennoch war der verbitterte Zug um ihren Mund nicht zu übersehen, der die ganze sorgsam gepflegte Schönheit Lügen strafte.
»Ich habe gestern nur etwas getrunken«, erklärte Frau Marxen, »weil ich abends Besuch hatte.«
»Aha. Und von wem?«
Die Reaktion war heftig. »Das geht Sie gar nichts an!«
Island klappte ihr Notizbuch zu und erhob sich. »Es gibt Leute, die rufen die Polizei, weil sie sich einsam fühlen. Sie brauchen ein bisschen Abwechslung im Leben, jemanden, der vorbeikommt und ihnen zuhört.«
Hedda Marxens Augen verengten sich. »Meine Kinder sind längst aus dem Haus«, sagte sie trotzig. »Sie werden uralt sein, wenn Ihr Kind endlich auf eigenen Beinen steht.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Island so gelassen wie möglich. Was für ein Problem hatte diese Marxen eigentlich? Am liebsten wäre sie einfach gegangen und hätte die Haustür hinter sich zugeschlagen.
»War außer Ihnen sonst noch jemand am See?«, fragte sie stattdessen. »Radfahrer oder Spaziergänger?«
»Nein, ich bin morgens allein da.«
»Heute war da zum Beispiel ein Ruderboot auf dem Wasser.«
»Die Ruderer«, sagte Hedda Marxen und winkte ab, »die sind aus Sehestedt, vom Ruderclub.«
»Man kann also vom Kanal in den See hineinfahren?«
»Der See dient kleineren Schiffen manchmal als Ausweichstelle. Dort ankern auch Segeljachten und Sportboote.«
»Und gestern?«
»Gestern war da niemand«, sagte Hedda Marxen sehr bestimmt.
8
N ach dem unbefriedigenden Besuch in Groß Nordsee fuhr Olga Island nach Achterwehr. Sie parkte vor der Amtsverwaltung, in der auch die Polizeistation untergebracht war. Beim Aussteigen fing sie wieder an zu schwitzen. Die Glastür der Station war verschlossen. Ein Pappschild besagte, dass Besucher sich im Notfall an das Büro des Finanzkämmerers wenden sollten. Nach kurzem Umherirren in dunklen Gängen klopfte sie an eine Tür mit der Aufschrift: Kämmerei und Archiv. Vorzimmer. Bettina Stark . Eine Frau mittleren Alters in Jeansrock und knapper Rüschenbluse unterbrach die Arbeit und sah gelangweilt von ihrem Monitor auf.
»Wo finde ich Herrn Stark von der Polizei?«, fragte Island.
»Der ist unterwegs. Wie ist denn Ihr Name?«
Island stellte sich vor. Sofort schien die Frau hellwach. Sie zwinkerte vertraulich. »Ich rufe meinen Mann gleich mal an.«
Es stellte sich heraus, dass der Hauptmeister gerade im Nachbarort Klein Nordsee damit beschäftigt war, einen Autoaufbruch aufzunehmen. Er ließ Island ausrichten, dass er in wenigen Minuten zurück sei.
Bettina Stark deutete auf einen kleinen Tisch mit zwei Besucherstühlen.
»Nehmen Sie doch Platz. Hab grad Kaffee durchlaufen. Möchten Sie einen?«
»Gern, mit viel Milch.« Island setzte
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