Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
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Seit der junge Mann sie begrüßt hatte, machte sich im Gesicht von Frau Dormann ein seliges Lächeln breit. Sie bewegte sich tänzelnd in ihren Filzpantoffeln über das knarrende Parkett, hielt den Hund fest an ihren Busen gepresst und schien der Welt entrückt. Vollkommen glücklich aber sah sie aus, als sie die Bibliothek betraten.
Die Bücher in den Holzregalen, die bis zur Decke reichten, waren alt und verbreiteten einen muffigen Geruch. Pergamentrücken mit unleserlichen Beschriftungen drängten sich an dunkle Ledereinbände in Golddruck. Der junge Mann begann die Systematik der Büchersammlung zu erläutern, deren älteste Exemplare aus dem 17.Jahrhundert stammten.
»Hat jemand von Ihnen noch eine Frage?«, wollte Paul-Walter Tüx schließlich wissen.
»Was ist mit dem Archiv?«, fragte Lotti Dormann. »Können wir das auch noch sehen?«
Der Junge zögerte. »Nein«, sagte er dann. »Das ist zur Zeit leider nicht zugänglich.«
»Warum denn nicht?«
»Es wird neu geordnet.«
»Jon Theissen war jeden Tag im Archiv, um die alten Sachen zu sortieren!« Frau Dormann klang triumphierend. »Beim Essen hat er uns davon berichtet.«
Paul-Walter Tüx nickte.
»Aber nun ist er auf und davon. Ist das nicht merkwürdig?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Ich schätze, er kommt bald wieder.«
Island brannte eine Frage auf der Zunge, nämlich wie Theissen das Archiv geordnet hatte, wenn er die alte deutsche Schrift nicht lesen konnte. Stattdessen fragte sie: »Stimmt es, dass er im Archiv seine Familiengeschichte erforscht hat?«
Paul-Walter Tüx musterte sie. Die Iris seiner Augen war dunkel, fast schwarz. Die Augenfarbe schien gar nicht so recht zu seiner hellen Haut und den hellbraunen Haaren zu passen.
»Möglich.«
»Und hat er was herausgefunden?«
In der Ecke stand eine schmale Standuhr, die bisher nicht weiter aufgefallen war. Jetzt entstand eine Stille, die ihr Ticken unüberhörbar werden ließ.
»Keine Ahnung«, sagte Paul-Walter. »Da müssen Sie ihn schon selber fragen.«
In diesem Moment fand der Hund von Frau Dormann, dass er lange genug herumgetragen worden war. Es gelang ihm durch eine plötzliche Bewegung, den Armen seines Frauchens zu entkommen. Er rutschte an ihr herunter, landete auf dem Boden und flitzte los. Schlitternd kratzten seine Krallen über den Parkettboden.
»Fritzi!«, rief Frau Dormann und rutschte eilig auf ihren Filzlatschen hinter dem Hund her.
Da klingelte Islands Handy, und sie ging ran.
»Hier spricht Henna Franzen.«
»Was ist los?«
»Ich weiß, du hast Urlaub, aber wir haben einen Fall reinbekommen. Er wird dich interessieren.«
»Was denn?«
»Heute Morgen hat ein Baggerfahrer auf einer Baustelle am Kanal eine Leiche gefunden. Wir haben den Toten noch nicht identifizieren können. Offenbar ist er an der Fundstelle verscharrt worden. Ein Blick auf die Landkarte sagt mir aber, dass die Baustelle nicht weit entfernt ist von dem See, an dem du dich neulich herumgetrieben hast. Du erinnerst dich, die Sache mit der verschwundenen Leiche?«
»Sicher.«
Franzen musste das Zögern in Islands Stimme bemerkt haben. »Was ist?«, fragte sie irritiert. »Kannst du grad nicht sprechen?«
»Richtig«, bestätigte Island mit leiser Stimme. »Hast du dich um die Sache gekümmert, um die ich dich gebeten hatte?«
Sie hatte sich zum Telefonieren abgewandt, spürte aber den Blick des jungen Mannes in ihrem Nacken. Warum war es in diesen alten Gemäuern so verdammt still? Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Wahrscheinlich war jedes Wort zu verstehen, das Franzen sprach.
»Was denkst du?«, fragte Franzen empört. »Ich hab grad total viel zu tun. Da kann ich nicht jeder Kleinigkeit sofort nachgehen.«
»Mach es, bitte!«
»Du weißt nicht, was hier los ist! Der Ostuferhafenfall und jetzt diese Leiche …«
»Kümmer dich drum, und ruf mich an, sobald du kannst.«
Mittlerweile hatte Frau Dormann ihren Fritzi in der Eingangshalle eingefangen und ihn wieder auf den Arm genommen. An der Tür verabschiedete sich Paul-Walter Tüx mit einer höflichen Verbeugung von seinen Gästen. Noch während sie draußen auf der Freitreppe standen, drehte sich hinter ihnen der Schlüssel im Schloss.
»Das war ja interessant«, sagte Frau Dormann, von der Hundejagd immer noch außer Atem.
Island nickte.
»Hat Jon Theissen mal mit dir darüber gesprochen, was genau er eigentlich erforschen wollte?«
»Das erzähle ich dir nach dem Abendessen. Heute
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