Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
tiefer gelegenen Nord-Ostsee-Kanal. Bis vor ein paar Jahren wurde die Schleuse noch regelmäßig von Wassersportlern und kleinen Ausflugsschiffen genutzt, aber inzwischen ist sie stillgelegt.«
»Dann konnte man früher von hier aus direkt in die ganze Welt fahren?«
»Genau das hat man getan.«
»Faszinierende Vorstellung.«
Der Achterwehrer Schifffahrtskanal war ein dunkler Wasserlauf, dessen Ufer mit Erlen und Weidenbüschen bewachsen war. Sie gelangten an ein rot gestrichenes Bootshaus, vor dem ein kurzer Steg ins Wasser ragte. Mücken tanzten in den Sonnenstrahlen. Lotti Dormann zog die Bootshaustür auf, und warme, nach Holz und Ölfarbe riechende Luft drang heraus. Im Halbdunkel lagen Boote auf einem Gestänge ordentlich übereinandergestapelt.
»Das Ruderboot ist nicht da«, stellte Frau Dormann mit Bedauern fest. »Wollen wir stattdessen eines der Kanus nehmen?«
Island erinnerte sich an einen Paddelausflug mit zwei Freundinnen während der Schulzeit. Sie waren aus der Schwentinemündung hinaus auf die Förde gepaddelt. Auf Höhe des Mönkeberger Strandes hatte sie die Fähre »Kronprins Harald« auf dem Weg von Kiel nach Oslo überholt. Sie waren in die Heckwelle des Schiffes geraten, und bevor jemand von ihnen begriffen hatte, was geschah, war das Kanu umgeschlagen und hatte sie unter sich begraben. Es war Sommer gewesen, und sie waren, das Boot an einer Leine hinter sich herziehend, an Land geschwommen. Der Schreck hatte ihnen noch lange in den Gliedern gesteckt. Aber auf einem Kanal würde es eine so starke Welle sicher nicht geben. Island nickte.
»Schone dich«, sagte Frau Dormann. »Ich mach das Boot klar. War ja meine Idee.«
Lotti entfaltete erstaunliche Kräfte, als sie sich ein Kanu schnappte und es ohne größere Anzeichen von Anstrengung auf einen der Bootswagen hievte. Am Steg ließ sie das Boot über eine Metallrolle zu Wasser. Fritzi bellte.
»Unerzogene Töle«, schimpfte sein Frauchen. »Zu Hause kommst du als Erstes in die Hundeschule.«
Lotti gefiel Olga Island immer besser. Vielleicht war sie doch nicht die Blankeneser Schreckschraube, für die sie sie gehalten hatte. Mit etwas Mühe kletterte sie vom Steg ins Boot und nahm das weiße Fellbündel entgegen, das sofort panisch versuchte, sich an ihren Knien festzukrallen. Zur Verhinderung von Kratzern waren die Stützstrümpfe jetzt ausnahmsweise mal praktisch.
Island ließ eine Hand durch das Wasser gleiten, während Lotti Dormann das Boot mit gekonnten Paddelschlägen voranbrachte. Die Dame hatte sich für diesen Ausflug wieder einmal umgezogen. Zu blauen Segeltuchschuhen trug sie eine grüne Adidas-Trainingshose und ein ärmelloses Top, das ihre braun gebrannten, erstaunlich muskulösen Oberarme zur Geltung brachte.
Sie glitten durch die grüne Dämmerung, die nach Sommerwasser roch. Islands Handy klingelte.
»Dass man nie seine Ruhe hat«, beschwerte sich Frau Dormann.
Island ging trotzdem ran.
»Hi, hier ist Lorenz.«
Sie schluckte.
»Schön, von dir zu hören.«
»Geht’s gut, Olga?«
»Ich hab frei und bin auf dem Wasser unterwegs. Es ist warm und sonnig, und die Abende sind so herrlich wie sonst nur im Süden …«
Entweder war die Verbindung nicht gut, oder Lorenz wollte gerade nicht zuhören.
»Ich habe auch ein paar Tage frei.«
»Toll! Wie lange denn? Wann kommst du her?«
»Mein nächster Kurs beginnt in fünf Tagen. Aber nach Deutschland zu fliegen ist grad viel zu teuer. Das lohnt sich nicht so richtig.«
Sie konnte es fast nicht glauben. Lorenz hatte frei, aber er zog nicht einmal in Erwägung, sie sehen zu wollen. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und irgendwo tief unten steckten die Tränen. Sie versuchte sie runterzuschlucken.
»Stattdessen fahre ich mal nach Venedig rüber«, sagte Lorenz unbeschwert.
»Wollten wir das nicht zusammen machen?«
»Sehr gern. Aber wer, bitte schön, hat nie Zeit?«
Statt einer Antwort zog sie die Nase hoch.
»Wenn das Kind kommt, ist es sowieso erst mal vorbei mit Ausflügen«, sagte Lorenz. Als könnte sie das trösten.
Sie hätte jetzt das eine oder andere entgegnen können, aber da Frau Dormann sichtlich interessiert zuhörte, verzichtete sie darauf. Mit der freundlichsten Stimme, zu der sie noch fähig war, wünschte sie Lorenz schöne Tage und recht viel Spaß. Ihre Hand zitterte, als sie die Telefonverbindung beendete.
»Probleme?«, fragte Frau Dormann.
»Nein, nein«, sagte Island und versuchte ein verkrampftes Lächeln. »Mein Freund ist
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