Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
und weiße Bluse. Hatte sie sich für diese läppische Besichtigung so herausgeputzt?
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagte sie.
»Hab ich was verpasst?«, entgegnete Island.
»Noch nicht.«
Hitze flirrte zwischen den Scheunen. Schwalben flogen hin und her und verschwanden unter Strohdächern. Die Uhr im Turm des Torhauses schlug zur halben Stunde. Da wurde die Tür des Hauses geöffnet, und ein junger Mann mit halblangen braunen Haaren und Shorts trat heraus.
»Sie möchten zur Besichtigung?«
»Sehr gern.« Lotti Dormanns Stimme klang viel höher als sonst.
»Bitte, kommen Sie doch herein.«
Sie standen in einer weitläufigen Eingangshalle, deren Boden mit großen schwarz-weißen Marmorplatten bedeckt war. Eine hellgrau lackierte Holztreppe führte seitlich in die obere Etage. Durch die hohen, ordentlich geputzten Fenster fiel gleißend hell das Nachmittagslicht. Island sah, dass Frau Dormann sich das Gesicht gepudert hatte und ihren Hund fest an die Brust presste.
»Ich heiße Paul-Walter Tüx«, sagte der Junge bemüht freundlich, »und ich begrüße Sie im Namen meiner Familie in unserem Herrenhaus hier auf Kreihorst. Ich werde Ihnen die historischen Räume zeigen. Die oberen Etagen sind bewohnt und deshalb leider nicht zugänglich.«
Frau Dormann nickte andächtig.
»Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Gut im Jahre 1227, als Adolf von Schauenburg nach der Schlacht von Bornhöved mit der Kolonisation des Landes begann …«
Daten aus der Geschichte des Landes und des Hofes prasselten auf sie nieder. Aber Island hörte kaum zu. Sie war damit beschäftigt, den jungen Mann zu betrachten. Sie schätzte ihn auf siebzehn oder achtzehn Jahre. Er war erstaunlich souverän und brachte gekonnt und ohne Mühe Jahreszahlen und Begebenheiten in einen gefälligen Vortrag. War es nicht bemerkenswert, dass es ein Spross der Familie Tüx höchstpersönlich übernahm, einfachen Sommergästen, wie sie es waren, das Anwesen zu zeigen? Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er in den Ferien, die er hier verbrachte, nichts Besseres zu tun hatte, als fremden Leuten trockene Geschichtsdaten herunterzubeten. Andererseits schien er ganz zufrieden mit dem, was er tat. Obwohl ihm Hemd und Shorts auf den Leib geschneidert waren, war er vom Äußeren her eigentlich eher unauffällig. Nur manchmal schienen sich seine Wangen zu röten, dann wirkte er schüchtern, was ihn sympathisch machte.
Nach seiner Einführung in die Geschichte des Gutshofes geleitete er die Besucherinnen zu einer Truhe mit Filzlatschen. Vergnügt stülpte Island sich die Pantoffeln über die Sandalen und beobachtete, wie Frau Dormann es nur mit Mühe schaffte, ihre eleganten Schuhe hineinzuzwängen. Allerdings waren Stützstrümpfe, Sandalen plus Filzpantoffeln eindeutig nicht das Wahre an einem Tag wie diesem. Island wünschte sich augenblicklich Wolken und Regen herbei. Es half nichts, der Schweiß lief ihr schon wieder den Nacken hinunter.
Sie gelangten von der Diele in einen großen Saal, der nach hinten zum Garten lag. Von diesem Saal aus blickte man über eine große Terrasse auf einen blau schimmernden Pool in einem gepflegten englischen Landschaftsgarten. An einem langen Holztisch auf der Terrasse saßen ein paar junge Leute. Es standen noch Reste eines offenbar späten Frühstücks herum. Island zählte zwei Frauen und drei Männer, alle etwa im Alter des jungen Schlossführers. Sie dösten im Schatten und hörten Musik.
Vom Gartensaal aus folgten sie Herrn Tüx junior durch den Speisesaal, das Spielzimmer, den roten, grünen und blauen Salon, diverse Schlafzimmer, Ankleidezimmer und einen Rauchsalon. In einigen Zimmern standen Vasen mit Blumengebinden von kaiserlichen Ausmaßen, aber als Island eine Blüte berührte, stellte sie fest, dass sie nur aus Stoff war. Das Jagdzimmer war mit Geweihen und altertümlichen Waffen geschmückt. Im gläsernen Waffenschrank hing eine beeindruckende Kollektion von Jagdgewehren. Der junge Tüx unterhielt sie mit Anekdoten und Wissenswertem aus dem Leben der verblühten Adelsfamilien, die das Haus im Lauf der Jahrhunderte in Besitz gehabt hatten.
Wahrscheinlich, so ging es Island durch den Kopf, hatte sie einen angehenden Kunsthistoriker vor sich, der in nicht allzu ferner Zukunft internationale Kunstereignisse managen oder zumindest ein bedeutender Sammler historischer Kunstgegenstände werden würde. Bestimmt hätte er keine Schwierigkeiten, alles, was er sagte, in noch mindestens drei weiteren
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