Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
machen. Wenn Sie morgens Ihren Dienst antreten, wurde der Haupteingang bereits freigegeben, damit die Reinigungskräfte ungestört Zugang zum Gebäude haben.« Abschließend klopft Frau Weiler ihren Kittel ab und macht ein nachdenkliches Gesicht. »Habe ich noch irgendetwas vergessen? Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich einfach an Ihre Kollegen auf dem Stockwerk, die sind hier ja auch überall verstreut.«
»Okay, kein Problem«, erwidere ich. Zwar bin ich mir noch nicht so sicher, ob die Situation an sich kein Problem für mich darstellt, aber ich will mein Bestes versuchen. Frau Weiler reicht mir die Hand, wünscht mir viel Erfolg und geht dann den langen Flur zurück Richtung Aufzug. Der blaue Teppich verschluckt ihre Schritte und es dauert nicht lange, da fällt die schwere Glastür hinter ihrem Rücken zu, und auf einmal stehe ich alleine inmitten der Textredaktion von Stunning Looks.
Es dauert einen Moment, bis ich mich gesammelt habe. Dann gehe ich zurück in die Kammer mit den Reinigungsmitteln, suche mir ein Putztuch und einen Allzweckreiniger heraus und gehe dann mit weichen Knien zum ersten Büro hinüber. Vier Schreibtische stehen darin, auf jedem ein ultramoderner Computer. An den Wänden hängen ein großer Kalender und weitere gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien mit bekannten Persönlichkeiten aus der Film- oder Musikwelt, welche scheinbar für Interviews oder Fotoshootings in der Redaktion zu Gast waren. Die Schreibtische sind absolut aufgeräumt – ohne jeden persönlichen Gegenstand, der in irgendeiner Weise auf den Charakter des Besitzers hätte schließen lassen. Kein Familienfoto, keine Souvenirs, nichts.
Ich schiebe die Tastaturen und Computermäuse zaghaft beiseite und beginne, die Arbeitsflächen abzuwischen. Die Monitore und Tastaturen werden von mir sorgsam entstaubt, die Papierkörbe in die Müllbeutel entleert, die ich vorher entfaltet habe, und der Teppich so lange mit dem Staubsauger bearbeitet, bis man auch darauf schlafen könnte. Als ich damit fertig bin, sehe ich mich um und suche nach weiteren Einsatzmöglichkeiten, kann aber beim besten Willen nichts entdecken. Der blitzsaubere Raum erstrahlt im elektrischen Licht der Deckenbeleuchtung, und ich mache mich auf, um das Prozedere im nächsten Büro zu wiederholen. Insgesamt sind es vier Räume, die ich sauber zu machen habe. Der nächste ist mit dem ersten absolut identisch, auch hier stehen vier Schreibtische beisammen. Das Zentrum der letzten zwei Büros ist einzig ein großer Schreibtisch, hinter dem sich ein lederner Chefsessel und davor zwei kleinere Besucherstühle befinden. Und irgendwie erscheinen diese Büros noch steriler als die zuvor.
Als ich das letzte Zimmer betrete, bemerkte ich jedoch einen entscheidenden Unterschied: An der Wand hinter dem Schreibtisch hängt ein großes Hochglanzfoto der berühmtberüchtigten Anna Wintour, der Chefredakteurin der amerikanischen Vogue. Mir stockt der Atem, und ich trete einen Schritt näher, um das Bild besser begutachten zu können. Am rechten unteren Rand des Bildes steht eine persönliche Widmung, mit schwarzem Edding verfasst. Ich lege den Kopf leicht schief und bewege lautlos meine Lippen, als ich lese: »For Evelyn, my German darling.«
Evelyn? Ja, klar! Evelyn Kern, die Chefredakteurin der Stunning Looks. Ich kenne ihren Namen aus dem Editorial des Magazins, und oftmals war auch in Klatschzeitungen die Rede von ihr, wenn sie auf irgendeiner Veranstaltung zugegen war.
Ich stehe hier also in ihrem Büro. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen bei dieser Erkenntnis. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dieses Büro erstmals bei einem Vorstellungsgespräch zu betreten, kurz bevor ich einen Job als Redakteurin angeboten bekäme. Und irgendwann, nach einiger Zeit, hätte ich Evelyns Platz eingenommen, den hinter dem schweren Schreibtisch, auf dem ledernen schwarzen Chefsessel …
Ich muss mich zusammenreißen, um nicht loszuheulen, und beginne mit der Aufgabe, wegen der ich hier bin: nämlich Frau Kerns Arbeitsplatz sauber zu machen.
Der frühe Vogel kann mich mal
Ich kann mich einfach nicht an das frühe Aufstehen gewöhnen. Der frühe Vogel fängt den Wurm – was interessiert mich schon so ein doofer Wurm? Soll ihn doch ein anderer Vogel fangen, ist mir auch egal.
Als ich mit der Rolltreppe aus dem U-Bahn-Schacht an die Oberfläche fahre, schlägt mir die kühle Luft des Morgengrauens entgegen. Es ist noch völlig ruhig, selbst solch eine pulsierende Stadt wie
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