Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
München dreht sich um diese Uhrzeit noch einmal um und zieht sich das Kissen über die Ohren, um noch ein Viertelstündchen schlafen zu können. Irgendwie fühle ich mich menschenunwürdig behandelt. Ich kann nur hoffen, dass ich und meine Kolleginnen irgendwann statt am frühen Morgen in den späten Abendstunden unsere Arbeit verrichten können. Dann käme ich zwar später ins Bett, dürfte aber dafür länger darin liegen bleiben, was in meinen Augen deutlich mehr wert ist.
Der Anblick des Logos von Stunning Looks am Eingang des Gebäudes bereitet mir immer noch ein unangenehmes Ziehen in der Herz- und Magengegend, obwohl ich schon seit inzwischen zwei Wochen regelmäßig an ihm vorbeigehen muss. Jeden Morgen das eigene Versagen aufs Butterbrot geschmiert zu bekommen, tut einfach verdammt weh. Auch wenn man es verdient hat. Na ja, das nennt man dann wohl die gerechte Strafe.
Als ich an diesem Morgen mit hängenden Schultern durch den Flur der Textredaktion schleiche, um mich an die Arbeit zu machen, stelle ich erstaunt fest, dass eine der Bürotüren offen steht und Licht brennt. Ob sich eine meiner Kolleginnen in meinen Bereich verirrt hat? Ich trete mit einem Wischmopp bewaffnet durch die Tür.
»Huch!« Erschrocken starrt mich eine junge Frau an, die an einem der Schreibtische vor einem Computer sitzt. Sie muss ungefähr mein Alter haben, nur dass sie viel puppenhaftere Gesichtszüge hat als ich. Ihre Haut ist absolut ebenmäßig, ihre dunklen Haare glänzen im elektrischen Licht der Deckenlampen, und sie trägt eine weiße Designerbluse, an deren Revers eine teuer aussehende Ansteckblüte befestigt ist. Unter ihren großen veilchenblauen Augen zeichnen sich allerdings vor Müdigkeit dunkle Schatten ab. Sie ist blass, und die Züge um ihren Mund wirken verhärtet.
»Sie haben mich ganz schön erschreckt.« Seufzend sinkt sie in ihren Bürostuhl zurück.
»Tut mir leid«, murmele ich und stehe etwas verloren im Türrahmen herum. Neben ihr fühle ich mich in meinem Putz – Outfit wie Aschenputtel höchstpersönlich.
»Kein Problem, Sie können ja nichts dafür. Normalerweise würde ich um diese Zeit zu Hause in meinem Bett liegen, aber ich habe so viel Arbeit, und ich komme einfach nicht weiter …« Sie stützt ihren Kopf in die Hände und richtet ihren Blick starr auf den Monitor. »Ich soll eine neue Kolumne erfinden und muss unbedingt den Text dazu fertig kriegen, aber ich weiß einfach nicht, was ich schreiben soll. Die Muse küsst mich nicht, verstehen Sie?« Dann sieht sie mich ratlos an, und ich stelle fest, dass ihre Augen schon ganz rot sind.
Ich räuspere mich verlegen. »Über was müssen Sie denn schreiben?«
»Ach«, sie macht eine wegwerfende Handbewegung, »irgendwas Frauentypisches. Unsere Leserinnen sollen sich angesprochen fühlen, sich im Thema wiederfinden können. Aber mir fällt einfach keines ein, ich bin so schrecklich ausgelaugt!« Die junge Frau seufzt erneut und wendet sich wieder ihrem Monitor zu.
Ich kann die Last, die auf ihren Schultern liegt, förmlich sehen. Vielleicht sollte ich mich einfach wieder zurückziehen und mich um meinen eigenen Kram kümmern. Helfen kann ich ihr ohnehin nicht.
»Na, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg!«, sage ich und hoffe, dass sie meine Worte nicht als Sarkasmus auffasst. Als sie nicht antwortet, drehe ich mich um und gehe in die Putzkammer zurück, um den Staubsauger zu holen und mich schon mal einem der anderen Büros zu widmen, solange die Stunning-Looks-Mitarbeiterin auf eine Eingebung wartet.
Nachdem ich mich durch die verschiedenen Reinigungsutensilien gewühlt und mir meine Sachen zusammengesucht habe, trete ich wieder auf den Flur. In diesem Augenblick verlässt die junge Frau ihr Büro, fährt sich müde mit den Händen übers Gesicht und lehnt sich erschöpft einen Moment lang an die blütenweiße Wand des Flurs. Dann sieht sie auf und winkt mir zu.
»Ich glaube, ich gehe jetzt besser nach Hause. Schönen Tag Ihnen noch!«
Mit einem freundlichen Lächeln nicke ich ihr zu und sehe ihr hinterher, wie sie den langen Gang hinunterstöckelt. Sie ist etwas größer als ich, aber viel dünner, und wirkt auf den hohen Absätzen ihrer Pumps beinahe zerbrechlich.
Jetzt, da sie fertig ist, beschließe ich, in ihrem Büro anzufangen, um meine inzwischen entstandene Routine nicht unnötig durcheinanderzubringen. Ich ziehe den schweren Staubsauger hinter mir her in den sterilen Raum und versenke den Stecker in eine der vielen Steckdosen.
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