Kann ich gleich zurueckrufen
– meine Tochter ist in einem Geburtenboomjahr geboren. Und wir wohnen in einem Viertel mit vielen Kindern, aber wenigen Kitas. Hoher Ausländeranteil, günstige Mieten.« Sie versuchte, eine Tagesmutter zu finden, ihre Chefin wollte sich an den Kosten beteiligen. Nichts. Eine Familie, die ihr die Tochter wenigstens vormittags abnehmen könnte, hat sie nicht – sie ist alleinerziehend, und ihre Eltern sind schon lange tot. »Ich hab dann gedacht, dass es vielleicht ein Zeichen ist. Dass ich meine Tochter nicht weggeben soll. Und deswegen habe ich jetzt diesen neuen Job: Ich verkaufe Kinderkleidung. Und kann meine Tochter zur Arbeit mitnehmen.«
Ihre Tochter läuft gerade auf etwas unsicheren Beinen hinter meinem Sohn her. Fünfzehn Monate alt, schätze ich, vielleicht etwas älter. Ich frage die Frau, ob sie später wieder in ihren alten Job zurückwill. Sie sagt, dass sie an sich gern wieder als Informatikerin arbeiten würde. Dass sie ihre Stelle wahrscheinlich auch problemlos wiederbekäme – weil sie gut ist und weil ihre Chefin voller Verständnis ist. Dass sie aber auch festgestellt hat, dass sie sich verändert hat. Dass sie sich nicht mehr über die Qualifikation Diplominformatikerin identifizieren mag. »Vor kurzem war ich auf der Hochzeit einer früheren Kollegin. Und ich fand es total beknackt, dass sie im Standesamt mit ihrem Berufstitel bezeichnet wurde – als würde das etwas über einen Menschen aussagen, der gerade heiraten will.« Ich merke an, dass das vielleicht typisch deutsch ist, dieser Drang, Menschen zu Lebensläufen zu machen und in Schubladen zu packen, auf denen ein Zeugnis klebt. Damit unsere außerordentlich komplexe Welt, einmal in Einzelteile zerlegt und ordentlich aufgeräumt, besser zu begreifen ist.
Sie lacht. Sagt, dass sie schon stolz ist, ihren vorbildlichen und irgendwie auch langweiligen Lebenslauf mit Kind und neuem Beruf radikal verändert zu haben. »Dass ich jetzt eine Yes - we - can -Amerikanerin im Geiste bin, würde ich aber nicht behaupten«, sagt sie dann. Und außerdem ist sie skeptisch, ob sie die nächsten Jahre mit einem Transporter voller Kinderkleider die Wohnzimmer der Stadt beliefern möchte.
Ich kann sie gut verstehen. Auf eine gewisse Art stellt sie mit ihrem neuen Job auch ihren Lebenslauf zur Schau – erzählt allen, dass sie eigentlich etwas anderes vorhatte. Und alle können ihre Tochter sehen. Ich glaube, so etwas liegt mir nicht. Für mich ist die strikte Trennung von Berufsleben und Privatleben immer schon immens wichtig gewesen – und zwar nicht nur im Lebenslauf. Wahrscheinlich muss ich mich deswegen auch immer so hetzen, um vom einen Leben ins andere zu kommen – ich habe zu wenige Übergangsmöglichkeiten eingerichtet.
Ich gehe zu den Kleidungsständern und schaue mir die Sommerkollektion für Jungs an. Ganz hübsche Sachen, manche etwas zu trendy für meinen Geschmack, mit aufgedruckten coolen Sprüchen und Comicfiguren.
Mir fällt ein, dass ich vor einiger Zeit einen Bericht über die verschenkten Potenziale von Frauen gelesen habe. 25 Dass es sehr viele Frauen gibt, die Minijobs haben oder Teilzeit arbeiten so wie ich und gerne mehr machen würden. Aufgrund der Kinderbetreuungssituation oder besser der familienunfreundlichen Arbeitsmodelle aber haben sie keine Möglichkeiten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich meinen Sohn um halb acht im Kindergarten abliefern, bis halb fünf im Büro bleiben und um fünf wieder am Kindergarten sein, also wieder eine 40-Stunden-Woche plus Mittagspause haben möchte. Plus Haushalt, Partnerschaft, Privatleben. Das hatte ich früher, als ich noch nicht Mutter war. Damals musste ich mich nach der Arbeit – und vor der Arbeit – nur um mich selbst kümmern. Aber ich bin auch in der Luxussituation, das benötigte Geld nicht allein ranschaffen zu müssen.
»Kriegst du Geld vom Vater deiner Tochter?«, frage ich die Kleidungsverkäuferin. Und erschrecke sofort über meine Direktheit. Sie meint, sie würde eigentlich nicht so gerne über diesen Teil ihres Privatlebens sprechen, vor allem nicht in Anwesenheit ihrer Tochter. Sie sieht sich um, das Mädchen ist gerade nicht im Zimmer. Dann sagt sie: »Ja, ich kriege Geld. So viel wie die Düsseldorfer Tabelle 26 vorschreibt. Aber wenn ich in der Zeitung lese, dass der Bundesgerichtshof von einer alleinerziehenden Mutter verlangt, ihr Grundschulkind jeden Tag bis fünf im Hort zu lassen, damit sie voll arbeiten kann, während der Vater des Kindes wahrscheinlich
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