Kann ich gleich zurueckrufen
an, erzähle von dem Gespräch mit der Ärztin und dass meine Mutter jetzt schläft. Dass ich sie gewaschen und angezogen habe. Wieder laufen mir Tränen über die Wangen, diesmal muss ich auch schluchzen. Ich beende das Telefonat schnell, weil ich es so furchtbar finde. Und zwar alles – am Telefon weinen, im Krankenhaus sein, dass meine Mutter verkabelt ist und nicht mehr weiß, was wir an Ostern gemacht haben. Einige Minuten später habe ich mich beruhigt und rufe meinen Mann noch mal an. Er sagt, ich soll mir so viel Zeit lassen, wie ich brauche, im Krankenhaus. Er sagt, dass ich mittags in der Krankenhauscafeteria etwas essen kann. Und dass er jetzt mit unserem Sohn an den Fluss will.
Nach diesem Telefonat fühle ich mich besser. Ich schalte das Handy aus und gehe zurück ins Zimmer meiner Mutter. Sie schläft immer noch. Ich setze mich auf den Stuhl neben ihrem Bett und betrachte sie. Es ist erstaunlich, wie vertraut und auch fremd sie mir gleichzeitig ist.
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter in meiner Kindheit jemals krank war. Nicht mal einen Schnupfen hatte sie – anders als mein Vater, der manchmal mit böser Migräne aus dem Büro heimkam und den Feierabend im abgedunkelten Zimmer verbringen musste. Meine Mutter ist immer stark gewesen, mit geradem Rücken und kräftigen Armen. Sie hat immer gewusst, was zu tun ist und wo etwas anzupacken ist – zumindest in meiner kindlichen Wahrnehmung. Ich habe sie auch nie traurig gesehen oder mit Tränen in den Augen.
Als ich mit meinem Sohn schwanger war, hat sich das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir verändert. Sie hat sich mir mehr geöffnet, mich ins Vertrauen gezogen. Mir etwa von einem Schwangerschaftsabbruch erzählt, für den sie sich entschieden hatte, als ich vier war. Mein Vater hätte gerne ein zweites Kind gehabt, aber sie wollte nicht. Sie konnte sich das nicht vorstellen, noch einmal alles aufzugeben für ein Baby, noch einmal neu anzufangen. Ich war ganz schön überrascht und auch verletzt, als sie das sagte. Das hat sie gemerkt und versucht, es mir noch besser zu erklären. »Ich wollte einfach unabhängig sein. Weil ich die Abhängigkeiten in meiner Familie so sehr gehasst habe. Außerdem hatte ich schon dich. Dich habe ich über alles geliebt – das tue ich auch heute noch. Aber durch dich war meine Unabhängigkeit dahin: weil du abhängig von mir warst.« Es ist meiner Mutter nicht leichtgefallen, mir das zu erzählen. Und ich hatte ganz schön Probleme, sie zu verstehen, ihre Entscheidung zu akzeptieren. Eine Schwester oder einen Bruder – das habe ich mir oft gewünscht.
Meine Mutter hat mir noch gesagt, dass sie – ohne auch nur den geringsten Besitzanspruch anzumelden – durch meine Schwangerschaft das Gefühl hat, eine zweite Chance zu bekommen. Noch ein Kind aufwachsen zu sehen, noch ein Kind so sehr lieben zu können wie das eigene. Und sie hat auch zugegeben, dass sie sich schon vor der Geburt meines Sohnes gewünscht hat, ihr Enkelkind wäre auch abhängig von ihr. Wenigstens ein bisschen.
Meine Mutter öffnet die Augen. »Du bist ja noch da«, sagt sie und lächelt schief. Sie setzt sich auf und stützt sich dabei auf die rechte Hand. Wahrscheinlich ist es eher eine unbewusste Bewegung – aber die rechte Hand macht mit. Die Lähmung scheint langsam abzuklingen. Sie schaut aus dem Fenster. »Ist richtiges Hermannswetter heute«, sagt sie. Ich nicke. Ein strahlend schöner Tag.
Ich frage sie, ob sie sich an den Freitagabend erinnern kann. »Du warst im Theater«, helfe ich ihr. Sie nickt. Sagt, dass sie im Theater nicht mehr richtig sehen konnte. Sie spricht leise und etwas undeutlich, was wohl auch mit dem hängenden rechten Mundwinkel zu tun hat. »Ich wollte heim«, sagt sie. Ich erzähle ihr, was ich von der Nachbarin erfahren habe. Dass sie mit dem Taxi heimgefahren sind, in der Pause der Theateraufführung. Dass die Nachbarin ihr auf der Treppe geholfen hat und beim Öffnen der Wohnungstür mit dem Schlüssel. Dass die Nachbarin dann den Krankenwagen gerufen hat. »Seitdem bist du hier«, sage ich. Sie nickt. Wirkt aber erschöpft, so als würde sie das Ringen um Erinnerung sehr anstrengen.
Ich frage nicht weiter, sondern erzähle ihr, dass meine Männer zum Fluss gegangen sind. »Sie wollen Steine werfen«, sage ich. Meine Mutter schaut auf das gerahmte Bild, das immer noch auf ihrem Nachttisch steht. »Ihr passt aber gut auf den Kleinen auf«, sagt sie. Ich nicke.
Die Schwester kommt. Sie
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