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Kann ich gleich zurueckrufen

Kann ich gleich zurueckrufen

Titel: Kann ich gleich zurueckrufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Streidl
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Cafeteria, in Trainingsjacke und -hose. Er rollt ein Gestell neben sich her, an dem eine Flasche hängt, über einen Schlauch mit seinem Handrücken verbunden. Der Mann setzt sich zu der Frau mit den Kindern.
    Meine Sympathie gilt ganz klar der Mutter mit den Kindern. Es ist Sonntag. Ihr Mann ist im Krankenhaus. Sie will ihn besuchen. Und natürlich wollen die Kinder ihn auch sehen, genauso wie er seine Familie sehen möchte. Ja, Krankenhäuser sind keine Spielplätze. Aber sie sind doch Begegnungsstätten für Gesunde und Kranke. In mir steigt mal wieder großer Zorn hoch, der sich auf die ältere Frau entlädt: Ich stehe auf und gehe an ihren Tisch. Der ältere Mann sieht mich zuerst und schaut überrascht. »Entschuldigen Sie bitte die kurze Störung«, sage ich. Seine Frau wendet sich mir zu. »Ich gebe Ihnen recht: Ein Krankenhaus ist kein Spielplatz.« Die Frau nickt und will mir zustimmend ins Wort fallen. »Genau«, setzt sie an, doch ich hebe die Hand und bringe sie damit zum Schweigen. »Ein Krankenhaus ist ein Ort, an dem kranke Menschen sind, denen es hilft, wenn sie von den gesunden Menschen nicht vergessen werden. Wenn sie von den gesunden Menschen besucht werden. Das gilt für alte Leute«, ich wende den Kopf kurz zu dem älteren Mann neben ihr, der mich entgeistert anstarrt, »ebenso wie für Kinder.« Die Frau will wieder ansetzen, etwas zu sagen, wieder schneide ich ihr das Wort ab. »Wir alle müssen lernen, besser miteinander auszukommen. Schlagen Sie das Wort ›Toleranz‹ im Lexikon nach, wenn Sie nach Hause kommen. Denn auch Sie können durchaus noch etwas dazulernen.« Ich wünsche einen schönen Tag und verlasse die Cafeteria.
    Auf dem Weg durch die Krankenhausgänge bin ich stolz auf mich. Weil ich mich getraut habe, etwas zu sagen, weil ich Partei ergriffen habe. Für andere, aber auch für mich selbst. Und das schon das zweite Mal in dieser Woche, fällt mir ein, schließlich habe ich dem IT -Mann vor ein paar Tagen in der Teeküche auch meine Meinung gesagt – zum Thema »Mütter im Büro«.
    Es ist seltsam. Die ach so wichtigen Dinge, denen ich täglich hinterrenne, sind mir plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Der Bus zum Büro, der Proof für die Broschüre und dieser blöde Aufzug. Der Streik fällt mir wieder ein. Ach ja. Es erscheint mir alles gerade recht bedeutungslos angesichts dieses Krankenhauses, in dem meine Mutter um ihr Leben ringt.
    Was ist das auch für ein komisches Ungleichgewicht: Mein Berufsleben ist wichtiger als mein Mutterleben oder mein Privatleben. Busfahrpläne, Kindergartenschließzeiten und Jour-fixe-Termine sind meiner Ehe, meinem Kind, meiner Mutter übergeordnet. Das muss ich ändern, ich will nicht so viel Zeit in einem künstlich geschaffenen Parallelleben verbringen, aus dem ich die Wünsche eines Dreijährigen ebenso wegorganisieren muss wie Zweisamkeit oder Zeit für Krankheit.
    Vor dem Aufzug entschließe ich mich, die Treppen zu nehmen. Und während ich die Treppen hochsteige, frage ich mich, ob ich die ganzen Tränen heute wegen meiner Mutter vergossen habe oder auch wegen mir selbst. Als mein Vater vergangenes Jahr starb, weinte ich mehr für meine Mutter als für mich. Sie hat den Mann verloren, mit dem sie viele Jahre lang zusammenlebte, ist allein zurückgeblieben. Sie hat sich darüber nicht beklagt, aber ich weiß, dass mit meinem Vater auch ein Teil von meiner Mutter gestorben ist. Der sich nicht einfach ersetzen lässt durch einen neuen Mann. Oder eine Kreuzfahrt auf dem Nil. Ich habe Angst davor, mir vorzustellen, dass meine Mutter stirbt. Und deswegen schiebe ich andere Dinge vor: Wie soll ich es schaffen, sie jeden Tag im Krankenhaus zu besuchen, wenn ich doch an den Koordinaten Kindergarten/Büro nur schwer etwas verändern kann? Nicht mal zur Schlaganfallinfostelle kann ich ohne Weiteres vormittags, denn da sitze ich im Büro. Wo soll meine Mutter hin, wenn sie rund um die Uhr betreut werden muss? In unser Gästezimmer oder in ein Pflegeheim? Ganz schön egoistisch, diese Gedanken, stelle ich fest.
    Ich öffne die Tür. Meine Mutter ist wach. »Da bist du ja wieder«, sagt sie. Ich setze mich neben sie und nehme ihre rechte Hand. Ihre Finger reagieren auf die Berührung. Ich lächle und erzähle, dass ich in der Cafeteria war und einer Frau, die sich über kleine Kinder beschwert hat, die Meinung gesagt habe.
    »Wo ist denn der Kleine?«, fragt meine Mutter und sieht sich suchend um. Ich sage, dass er mit meinem Mann am Fluss ist und

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