Kann ich gleich zurueckrufen
Steine ins Wasser wirft. Und vielleicht ein Eis essen geht. Dass er nicht hier ist heute, und dass die Frau in der Cafeteria über andere Kinder geschimpft hat. »Er ist ja auch so brav«, sagt meine Mutter. Ich nicke. Und erzähle ihr dann vom Märchenpark. Ich muss ziemlich viel erklären, da sie längere Zeit nicht versteht, was das ist, ein Märchenpark. Sie denkt zuerst an Bilderbücher, dann an Kasperltheater und Kinderbühnen. So richtig versteht sie es erst, als ich ihr die Bergwerkbahn der Sieben Zwerge beschreibe.
Die Schwester kommt ins Zimmer und bringt ein Tablett mit Kuchen und Tee. Meine Mutter will nicht essen, nippt nur am Tee und schläft dann wieder ein. Ich bin sicher, das lange Reden strengt sie an. Ich sitze an ihrem Bett. Sehe, wie sie atmet, wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt. Sie sieht friedlich aus. Wann habe ich das letzte Mal so viel Zeit mit meiner Mutter verbracht? Ich kann mich nicht erinnern. Die letzten Monate haben wir uns eher die Türklinke in die Hand gegeben, weil sie auf den Kleinen aufgepasst hat, während ich zu einem Termin gehetzt bin. Und unsere Telefonate waren auch immer nur kurz. Auch das muss ich ändern, denke ich.
Ich greife nach einem Magazin, das auf dem Nachttisch liegt. Eine Schauspielerin, Mitte sechzig, also nur ein paar Jahre jünger als meine Mutter, dafür aber oscargekrönt, sagt im Interview: Eltern, die ihre Freiheit für das Glück ihrer Kinder opfern, sind die wahren Helden unserer Gesellschaft. 34 Die Schauspielerin selbst ist kinderlos. Gewünscht kinderlos.
Ist es wirklich ein Opfern der Freiheit, ein Kind glücklich zu machen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht erst durch mein Kind den Unterschied zwischen wahrer Freiheit und scheinbarer Freiheit erkannt habe. Ist es wirklich Freiheit, täglich stundenlang in einem Büro zu sitzen und für eine Firma zu arbeiten, die an mir als Individuum wenig interessiert ist, die mich nur als einen von vielen Pfeilern nimmt, auf denen ihr Fundament ruht?
All die Dinge, auf die Eltern verzichten müssen – ausgehen, ausschlafen, Extremsportferien machen. Mir fallen eigentlich nur Sachen ein, die mir total egal sind. Bis auf das mit dem Schlaf vielleicht, doch ich weiß ja, dass die Nächte wieder ruhiger werden, wenn die Kinder älter sind. Mir kommt es so vor, als wäre Freiheit ein Versteck für Egoismus, und dann kann man »Kinder« auch mit »pflegebedürftige Eltern« ersetzen: Eltern, die ihre Freiheit für das Glück ihrer pflegebedürftigen Eltern opfern, sind die wahren Helden unserer Gesellschaft.
Ich lege das Magazin wieder auf den Nachttisch und erinnere mich an das, was ich heute Morgen im Autoradio gehört habe. 35 Ein Mann hat sich nach dem Tod seiner Mutter fürchterlich mit seiner Schwester zerstritten. Die Schwester wirft dem Mann vor, dass er die Mutter für die letzten Jahren ihres Lebens in ein Pflegeheim gesteckt und sie nicht in seiner Wohnung betreut hat. Der Mann ist pensioniert – frühzeitig, nach drei Herzinfarkten. Die Schwester ist die Inhaberin einer kleinen Pension. Sie wollte die Mutter nicht in ihrem Haus aufnehmen, weil sie Vollzeit arbeitet. Nun reden die Geschwister nicht mehr miteinander.
Wo ist eigentlich mein Recht auf Glücklichsein?, hat der Mann gefragt. Und wieder und wieder beteuert, wie schlecht es ihm rein gesundheitlich geht nach drei Herzinfarkten. Er wünscht sich Ruhe und Frieden mit seiner Schwester, dem letzten Rest seiner Familie. In der Radiosendung war auch ein Experte, ein Familienanwalt. Der meinte, dass um Geld einfach viel gestritten wird. Und die Pflege eines Elternteils kostet natürlich viel Zeit und Energie, manchmal durch ein fettes Erbe oder gesellschaftliche Anerkennung entlohnt, von der Gesellschaft aber nicht wirklich anerkannt. Weil es keine Übersetzung der Betreuung in Geldwerte gibt.
Ich habe dann daran gedacht, dass das Elterngeld genau das macht – es übersetzt Kinderbetreuung in Geldwerte. So und so viele Monate beim Kind sein ist so und so viele Monate Gehalt wert. Nein, nicht mal 70 Prozent davon. Gibt es dasselbe auch für die Zeit, die man in die Pflege einer Mutter investiert, die einen Schlaganfall hatte?
Meine Mutter schläft immer noch. Sie sieht nicht sonderlich krank aus, nur etwas blass. Krank wirkt sie durch die Schläuche und Kabel. Ich kann sie mir nicht in einem Pflegeheim vorstellen. Einmal habe ich eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt besucht, und war entsetzt, wie traurig die Menschen dort waren. Sie
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