Kann ich gleich zurueckrufen
entspannen, sagt mein Mann. Er hat recht. Ich werde Kraft brauchen – für meine Mutter, für mich. Und meinen Kleinen. Wie soll ich ihm nur erklären, was passiert ist?
SONNTAG
Das letzte Mal habe ich um 5:35 Uhr auf mein Handy geschaut. Jetzt ist es 6:40 Uhr. Ich habe nicht geschlafen in dieser Nacht. Fast nicht. Ich war in Gedanken bei meiner Mutter, habe mir vorgestellt, wie sie im Krankenhaus liegt, an Überwachungsgeräte angeschlossen. Wie sie da liegt und vielleicht nicht versteht, warum sie da liegt. Weil ihr Gehirn nicht mehr richtig funktioniert. Weil sie hilflos ist, so hilflos wie ein Kind, wie mein Sohn, wenn er dort liegen würde.
Mein Mann schläft noch. Leise stehe ich auf. Mein Sohn schläft auch noch. Nach einer schnellen Dusche ziehe ich mich an und gehe in die Küche. Während die Kaffeemaschine heiß wird, wähle ich die Nummer des Krankenhauses.
»Ihre Mutter ist wach«, sagt die Schwester. Sie kann ihr das Telefon bringen, wenn ich das möchte. »Ja, bitte«, sage ich. Und dann höre ich die Stimme meiner Mutter. »Ja?«, sagt sie. »Mama«, sage ich und versuche, meine Tränen zu unterdrücken. »Was machst du denn für Sachen? Ich komme jetzt gleich zu dir, und dann wird alles gut«, sage ich. »Ja«, sagt meine Mutter. Dann ist wieder die Schwester am Apparat. »Das Sprechen fällt ihr noch ein bisschen schwer. Kommen Sie heute vorbei?« Ich sage, dass ich in spätestens einer Stunde im Krankenhaus bin. Die Schwester nennt mir die Zimmernummer und meint, meine Mutter würde sich sicher über ein eigenes Nachthemd freuen.
Mein Mann kommt in die Küche und wünscht mir einen guten Morgen. Er gießt uns beiden Kaffee ein. »Willst du schon los?« »Ja, bald«, sage ich, und dass ich noch ein Nachthemd und vielleicht Hausschuhe und Unterwäsche aus der Wohnung meiner Mutter holen und mitnehmen will. »Bring ihr doch ein Foto mit, von dir und dem Kleinen«, sagt mein Mann. »Gute Idee«, sage ich. Er geht ins Wohnzimmer und nimmt ein gerahmtes Bild von der Wand: Meine Mutter, mein Sohn und ich beim Eisessen. Mein Mann hat uns an Ostern fotografiert, als wir Ferien in Südtirol gemacht haben. Ich stecke das Bild in meine Tasche. Mein Mann schneidet einen Apfel auf und reicht mir ein Stück. »Iss was«, sagt er. Ich nicke.
Unser verschlafenes Kind kommt aus dem Kinderzimmer, den Plüschhasen im Arm. »Der Hase will einen warmen Kakao«, sagt der Kleine. Ich nehme ihn in den Arm. Mein Mann gießt Milch in einen Topf und bereitet die heiße Schokolade zu. »Ich muss gleich zur Oma«, sage ich zu unserem Sohn. »Sie ist leider krank geworden.« Er fragt, ob die Oma ein Pflaster braucht. Und ob ich pusten muss. Ich nicke und merke, dass ich wieder anfange zu weinen. Ich wende mein Gesicht ab und versuche, ruhig zu bleiben. Nicht mehr weinen, denke ich und beiße die Zähne zusammen. Der Kleine trinkt einen Schluck Kakao. Dann setzt er die Tasse ab und geht ins Kinderzimmer. Mit einer Zange kommt er wieder in die Küche. »Nimm die doch mit«, sagt er, »dann kannst du die Oma reparieren.« Ich stecke die Zange in meine Tasche und verabschiede mich von Mann und Kind.
Ich hole das Auto aus der Tiefgarage und fahre zur Wohnung meiner Mutter. Die Straßen sind leer, die meisten Ampeln ausgeschaltet oder grün. Ich packe drei Nachthemden und Unterwäsche, Zahnbürste, Zahnpasta, Gesichtscreme und Haarbürste und ihre Hausschuhe in die kleine Reisetasche, die in der Diele steht.
Als ich an der Küche vorbeigehe, sehe ich, dass am Kühlschrank ein Zettel hängt: Donnerstag um 4, steht darauf, darunter der Name meines Sohnes. Ich kämpfe mit den Tränen und schäme mich, dass ich vor ein paar Tagen so ungeduldig war mit ihr. Ich atme tief durch. Dabei fällt mir auf, wie sehr es in der Wohnung nach meiner Mutter, nein, eigentlich nach meinen Eltern riecht: Nach Lavendel, den meine Mutter so liebt, überall hat sie selbst genähte Duftkissen mit getrockneten Lavendelblüten versteckt. Und nach Pfeifentabak – auch wenn mein Vater schon über ein Jahr tot ist und in den letzten Monaten nicht mehr geraucht hat, ist der Duft nach Vanille immer noch zu riechen.
Ich ziehe die Wohnungstür leise hinter mir zu und sperre ab. Die Tür der Nachbarwohnung öffnet sich. »Ach, Sie sind es«, sagt die Nachbarin. »Guten Morgen.« Sie fragt, ob ich etwas Neues weiß von meiner Mutter. Ich sage ihr, dass ich auf dem Weg ins Krankenhaus bin. Und ein bisschen Wäsche geholt habe für meine Mutter. Die Nachbarin
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