Kann ich gleich zurueckrufen
»Klar.« Es ist ähnlich wie mit meinem Sohn, dem ich beim Zähneputzen auch oft helfen muss, vor allem, wenn er abends müde ist und nicht mehr allein putzen mag. Ich hole die Haarbürste aus der Tasche und kämme meine Mutter vorsichtig. »Creme?«, frage ich. Sie nickt. Ich creme ihr Gesicht ein. Dann nehme ich meinen Taschenspiegel und zeige ihr ihr Spiegelbild. »Siehst gut aus«, sage ich. Und es ist nicht mal gelogen. Im eigenen Nachthemd sieht sie deutlich besser aus als in dem weißen Krankenhausgewand, das am Rücken mit Bändern zugeknotet werden muss.
Die Tür geht auf. Visite. Die Stationsärztin, zwei Schwestern und zwei junge Männer in Weiß treten ein. »Guten Morgen«, sagt die Stationsärztin. Meine Mutter schweigt und schaut aus dem Fenster. Ich wünsche auch einen guten Morgen, stelle mich kurz vor und frage, ob ich während der Visite im Zimmer bleiben kann. Die Stationsärztin ist einverstanden und stellt die Männer vor: Medizinstudenten, die gerade ein Praktikum im Krankenhaus machen.
Die Stationsärztin sieht die Akte durch und nimmt eine kleine Lampe aus ihrer Tasche. »Schauen Sie mal in das Licht«, sagt sie. Sie leuchtet in die Augen meiner Mutter. Meine Mutter folgt den Bewegungen der Lampe. Dann fragt die Ärztin, ob meine Mutter weiß, welcher Tag heute ist. Meine Mutter nickt. »Samstag«, sagt sie. »Nicht ganz«, sagt die Stationsärztin. »Heute ist Sonntag.« Sie zeigt auf mich. »Wissen Sie, wer das ist?« Meine Mutter nickt wieder. »Meine Tochter.«
Die Stationsärztin steht auf und verabschiedet sich. »Ich komme gleich wieder«, sage ich zu meiner Mutter und gehe mit Ärztin, Schwestern und Famulanten aus dem Zimmer. Ich bitte die Stationsärztin um ein kurzes Gespräch. Sie bleibt im Gang stehen und nimmt noch einmal die Akte meiner Mutter zur Hand. »Geht in fünf Minuten weiter«, sagt sie zu den Schwestern, die darauf im Schwesternzimmer verschwinden. Die Praktikanten bleiben bei uns.
»Ihre Mutter hat Glück gehabt, dass sie so schnell zu uns gekommen ist«, sagt die Stationsärztin. »Bei einem Schlaganfall geht es um Minuten – wenn wir innerhalb von vier Stunden therapieren können, sind die Chancen auf Heilung gut.« Sie zeigt mir das Kernspinbild von Freitagnacht und weist mich auf eine dunkle Fläche hin. Außerdem sehe ich einige kleine weiße Flächen. Dann zeigt sie mir das Kernspinbild von Samstagmorgen, auf dem die dunkle Fläche verschwunden ist. Die weißen Flächen sind aber immer noch da. »Auf dem MRT haben wir das Blutgerinnsel deutlich gesehen, das den Schlaganfall verursacht hat. Außerdem zeigte die Patientin eindeutige Symptome: Beeinträchtigung der Sehfunktion, des Sprachapparates, einseitige Lähmungen. Durch gezielte Medikamentierung hat sich das Gerinnsel aufgelöst.«
Ich frage, ob die Lähmung und die Verwirrtheit auch wieder verschwinden. Die Ärztin will sich nicht festlegen. Für den kommenden Tag sind weitere Untersuchungen angesetzt, außerdem wird mit Physiotherapie und Logopädie begonnen. »Ein Schlaganfall ist oft ein Schuss vor den Bug«, sagt die Ärztin. »Zum Glück ist Ihre Mutter nicht übergewichtig und auch sonst bei ganz passabler Gesundheit.« Sie weist mich darauf hin, dass ein Patient nach einem Schlaganfall nicht allein gelassen werden sollte; dass neben dem medizinischen Personal die Angehörigen ganz wichtig sind. Ich sage, dass mein Vater tot ist, dass meine Mutter nur noch mich hat. »Sprechen Sie doch morgen nach der Visite mit dem Oberarzt«, sagt die Ärztin. Außerdem empfiehlt sie mir die Schlaganfallinfostelle im Krankenhaus, die unter der Woche vormittags besetzt ist. Dann verabschiedet sie sich und geht, begleitet von den Studenten, weiter.
Ich bleibe stehen, fühle mich überfordert. Ich bin nicht sicher, ob ich alles verstanden habe. Und bemerke, dass ich ganz viele Fragen nicht gestellt habe: Warum ist das passiert? Passiert das wieder? Wie lange muss meine Mutter im Krankenhaus bleiben? Muss sie eine Reha machen? Wird sie wieder gesund?
Ich gehe zurück zu meiner Mutter. Sie ist eingeschlafen. Vorsichtig setze ich mich neben sie und nehme ihre rechte, gelähmte Hand. Tränen laufen mir über die Wangen, aber ich kann das Weinen kontrollieren und bleibe ganz leise. Ich suche in meiner Tasche nach einem Taschentuch und finde die Spielzeugzange, die mir mein Sohn mitgegeben hat.
Nach einer Weile gehe ich aus dem Zimmer und schalte im Treppenhaus mein Handy an. Es ist 9:30 Uhr. Ich rufe meinen Mann
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