Kannst du mir verzeihen
Anekdoten aus dem kleinkriminellen Milieu von Little Over zum Lachen. Den Vogel schoss er ab mit der Geschichte über den Diebstahl der lebensgroÃen Wahlkampf-Pappfigur eines Stadtrates, die später in neuem Look ganz oben auf dem Brunnen mitten auf dem Marktplatz wieder auftauchte: Der Pappkamerad war als Dragqueen inklusive Strassohrringen, einer Federboa und Stripperdessous verkleidet. Edith setzte bei der Geschichte einen betont unbeteiligten Blick auf, aber ansonsten war sie genau wie Annie sehr zufrieden damit, dass Eddie auffällig oft zu Hanny schaute.
Was nur Hanny nicht auffiel.
Hanny schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein, das jedenfalls glaubten die anderen drei, und sie glaubten auch zu wissen, warum. Hätten sie sie gefragt, hätten sie zu ihrer Erleichterung erfahren, dass Hanny einfach nur glücklich war. Für sie war die Küche das Herz ihres Zuhauses. Und an diesem Abend, erfüllt von dem unbeschwerten Lachen von Freunden und Verwandten, schlug es wieder.
Als es auf Mitternacht zuging und die anderen fieberhaft Poker spielten, erhob Hanny sich und ging mit Nancy in den verschneiten Garten. Ihr war von den beiden dicken Pullis, die sie angezogen hatte, um ihre durchs Trostessen angefutterten Pfunde zu verbergen, ganz warm und vom Qualm der Heilkräuterzigaretten, die Annie und Edith rauchten, etwas übel geworden, und sie brauchte dringend frische Luft.
Es war eine sehr kalte, sehr klare Nacht. Ein pechschwarzer Himmel, an dem Abertausende Sterne schimmerten.
Bastian und sie hatten im Sommer immer auf der duftenden Wiese gelegen und in den Nachthimmel geschaut. Die Sternbilder kannten sie in- und auswendig.
»Immer unter demselben Mond«, hatte er einmal gesagt, nachdem sie eine Weile schweigend das Firmament bestaunt und die Geräusche der warmen Augustnacht in sich aufgenommen hatten. Dann hatte er ihre Hand genommen, sich auf die Seite gerollt und sie statt der Sterne angesehen.
»Was meinst du?« Auch sie rollte sich auf die Seite. In seinen Augen verlor sie sich noch mehr als in der MilchstraÃe.
»Wenn wir jemals getrennt sein sollten, dann sieh einfach zum Himmel hinauf und denk dran, dass wir immer unter demselben Mond sein werden â ganz gleich, wo wir sind.«
Hanny seufzte, als sie sich daran erinnerte, und ihr Atem bildete eine Wolke in der kalten Luft. Sie war in Gedanken so weit weg gewesen, dass es einen Moment dauerte, bis sie bemerkte, dass sie nicht mehr allein drauÃen war. Eddie war herausgekommen und hatte sich freundlich schweigend neben sie an die Hauswand gelehnt.
»Na, woran denkst du?«, fragte er, als er sicher sein konnte, dass sie ihn bemerkt hatte.
»Ich schau mir bloà die Sterne an«, antwortete sie und lächelte.
»Wunderschön, was?« Er lieà den Blick von ihr zum Himmel wandern.
»Ja, wunderschön«, seufzte Hanny. »Heute ist die Nacht so klar, dass man jede Menge Sternbilder sehen kann.« Wenn er Bastian gewesen wäre, hätten sie jetzt angefangen, sie aufzuzählen. Hätten gewetteifert, wer von ihnen mehr findet. Aber er war nicht Bastian.
Also schwiegen sie einfach wieder eine Weile, bis er völlig unerwartet fragte:
»Glaubst du, da drauÃen ist irgendwas?«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu und lächelte.
»Du meinst, AuÃerirdische?«
»Ein besseres Wort haben wir wohl nicht.«
»Du?«
»Warum nicht? Und wenn es da drauÃen keine gibt â ich bin mir ziemlich sicher, dass in deiner Küche zwei sitzen.«
Sie lachte.
Genau das hatte er bezwecken wollen.
Wieder sah sie ihn von der Seite an. Aus ihren goldenen Augen strahlte gute Laune.
»Tut mir leid. Die sind ein bisschen schräg ...«
»Ja. Aber schön schräg.« Er nickte und erwiderte ihr Lächeln.
»Wunderschön schräg. Meistens jedenfalls.«
Es raschelte in einem der Sträucher, dann tauchte die mit glitzerndem Schnee bestäubte Nancy auf und lief nicht zu Hanny, sondern zu Eddie und bat darum, hochgenommen zu werden. Er kam ihrer Aufforderung bereitwillig nach und steckte sie sich unter die Jacke.
Hanny lächelte noch mehr.
Er war fasziniert davon, wie sehr sich ihr Gesicht veränderte, wenn sie lächelte.
»Und? Wie geht es dir?«, fragte er.
Sie dachte kurz nach, bevor sie antwortete.
»Ganz okay.«
»Ganz okay kann alles heiÃen. Gut oder schlecht?«
»Mir gehtâs
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