Kantaki 01 - Diamant
die Akuhaschi betraten ihn nicht.
Aus einem Reflex heraus ging Lidia langsamer. »Mutter Krir …«
»Keine Sorge, Diamant. Du bist fast wie eine Tochter für mich, und das bedeutet: Du darfst hier sein, bei den anderen.«
Bei den anderen?, wiederholte Lidia in Gedanken.
Die perspektivischen Verzerrungen waren hier noch stärker als in den anderen Sektionen des Schiffes, aber sie ließ sich trotz ihrer Müdigkeit nicht von ihnen verwirren, sah sich stattdessen um und versuchte, möglichst viele Eindrücke zu sammeln. Überall sah sie Hinweise auf die Fünf, die in Leben und Kultur der Kantaki eine so große Rolle spielte, und sie erinnerte sich daran, dass Mutter Krir zu den Großen Fünf zählte, den Oberhäuptern ihres Volkes. In sich verwinkelte Wände mit fünf Kanten. Fünf Muster aus fünf dunkelrot glühenden Kristallen, umgeben von einem schwarzen Pentagon. Gänge mit fünf Abzweigungen, jede von ihnen ein Tunnel, der sich spiralförmig bis in die Unendlichkeit wand und gleichzeitig nach einer Länge von fünf Kantaki-Schritten abknickte. Lidia hatte inzwischen gelernt, sich nicht vom Erscheinungsbild täuschen zu lassen, und deshalb reagierte sie nicht mit Schwindel und Übelkeit.
Schließlich blieb Mutter Krir vor einem fünfeckigen Zugang stehen und hob ein Glied, wodurch die einzelnen Facetten der Tür in die Wand glitten. Lidia sah einen halbdunklen, runden Raum mit gewölbten Wänden, die wie pockennarbig aussahen. Stimmen kamen aus den vielen Mulden und kleinen Löchern, flüsternde Stimmen, die sich zu einer sanften Melodie vereinten, ohne dass eine einzige von ihnen sang. Und in der Mitte dieses Raums, auf stängelartigen Sockeln, lagen fünf Eier. Ihre grauen Hüllen waren semitransparent, und im Inneren, die Körper halb zusammengefaltet, lagen fünf kleine Kantaki. Manchmal bewegten sie sich, wie im Takt zur geflüsterten Melodie.
Lidia fühlte, wie sich ihre Lippen bewegten und ein Lächeln formten. »Mutter Krir …«, sagte sie. »Ich wusste nicht …«
»Jetzt weißt du es«, erwiderte die alte Kantaki. »Dies sind meine Kinder. Sie schlafen hier und träumen. Und sie warten auf ihre Geburt. Schlaf mit ihnen. Träum mit ihnen. Schöpfe neue Kraft. Und dann, wenn du dich erholt hast, bringst du uns alle in die lineare Zeit zurück.«
Mutter Krir vollführte eine komplexe Bewegung mit mehreren Gliedmaßen, und etwas wuchs aus dem Boden: eine Art Liege, zwischen den Eiern.
Lidia richtete einen fragenden Blick auf die Kantaki.
»Nur zu«, klickte Mutter Krir.
Lidia betrat den runden Raum, trat scheu an den Eiern vorbei und streckte sich auf der Liege aus. Von dort blickte sie zur Tür zurück und sah, wie Mutter Krir ihr noch einmal zuwinkte. Dann schoben sich die Facetten aus der Wand und trennten den Raum vom Korridor.
Lidia hörte das Flüstern, schloss die Augen und war innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen.
Sie träumte, wie Mutter Krirs Kinder, von den Großen Kosmischen Zeitaltern.
Am Anfang war der Geist, und der Wunsch des Geistes zu sein, schuf Materie als ein Vehikel für sein Wachstum. Der Geist kondensierte zum Plurial, das somit einen Anfang hat, aber kein Ende, und in diesen multiplen Kosmen begann er mit der Ausdehnung. Der Geist durchdrang alles, von außen nach innen, und er begann zu wachsen, von innen nach außen.
Dies war das Erste und kürzeste Kosmische Zeitalter, die Ära der Geburt.
Lidia schlief, umgeben von Mutter Krirs Kindern, aber selbst in ihrem tiefen Schlaf der Erschöpfung begriff sie, dass sie etwas sehr Außergewöhnliches erlebte. Die in den Wänden flüsternden Stimmen, die für ein menschliches Ohr wie Gesang klangen, erzählten den noch ungeborenen Kantaki die Geschichte der Welt, und Lidia hörte sie mit ihrer Gabe. Dadurch bekam sie Einblick in den Kernbereich der Kantaki-Philosophie, in die Grundlagen ihres Sakralen Kodexes. Sie rollte sich zur Seite, und die Liege passte sich ihr an, umschmiegte sie wie eine zärtliche Hand. Lidia schlief, lauschte und lernte.
Wachstum bestimmte das Zweite Kosmische Zeitalter. Der zu Materie kondensierte Geist entwickelte sich und folgte dabei den Gesetzen der Materie, die in jedem Kosmos des Plurials anders waren. Das Zusammenspiel der elementaren Kräfte unterlag Variationen, und dadurch bekam die Materie unterschiedliche Strukturen – der Geist experimentierte mit unterschiedlichen Vehikeln für seine Weiterentwicklung. Das Plurial ist endlos, und deshalb gibt es endlose
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