Kantaki 01 - Diamant
essen, und auch die meisten Nonkonformisten nicht. Normalerweise muss man dort einen Tisch Wochen zuvor reservieren lassen, aber ich habe gute Beziehungen. Oder die Panoramakuppeln in der Tiefsee. Haben Sie jemals in einer Tiefe von sechstausend Metern Delikatessen genossen und dabei im Licht gut platzierter Scheinwerfer die seltsamsten Bewohner des Scharlachroten Meeres beobachtet? Dies hier …« Er vollführte eine Geste, die der Umgebung galt. »… ist so gewöhnlich .«
»Eben«, erwiderte Lidia mit fester Stimme. »Deshalb sind wir hier.«
Sie gingen über die breite Uferpromenade von Bellavista, nur wenige Meter vom Ufer des Meeres entfernt. Hunderte von Touristen schlenderten hier im warmen Schein der untergehenden Sonne oder saßen auf Bänken und genossen die Aussicht. Auf der anderen Seite der breiten Grünstreifen, die den felsigen Uferbereich mit der Promenade von der Stadt trennten, summte der Levitatorverkehr in den Flugkorridoren.
»Dies ist die normale Realität, Dorian«, fuhr Lidia fort, und Valdorian glaubte, im melodischen Klang ihrer Stimme einen Hauch Kummer zu hören. »Sehen Sie sich die Menschen an, die hier ihren Urlaub verbringen. Oder die Subalternen dort, die Fischer.« Sie deutete auf zwei Levitatorkutter, die in den nahen Hafen einliefen, mit frisch gefangenem Fisch an Bord. Es gab nach wie vor viele Personen, die echte Lebensmittel synthetischen vorzogen, und die Fischrestaurants von Bellavista galten als erstklassig. »Haben Sie sich jemals gefragt, wie die Subalternen und Nonkonformisten leben, mit welchen Hoffnungen und Wünschen, mit welchen Ansprüchen? Sie müssen tagtäglich Kompromisse schließen mit dem Rest des Universums. Bei ihnen zählt nicht das, was sie wollen; sie müssen sich mit dem begnügen, was Umwelt und Situation zulassen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Zum Beispiel die Fischer. Ihr Leben hängt vom täglichen Fang ab. Oder die Kunsthandwerker in der Stadt; sie brauchen die Touristen als Kunden. Sie alle sind Teil einer Realität, die sie nicht ändern können, der sie sich anpassen müssen.«
»Ich könnte Ihnen mehr bieten als sie alle zusammen«, sagte Valdorian, und etwas in Lidias Gesicht wies ihn darauf hin, dass er die falsche Antwort gegeben hatte.
»Ich weiß. Und ich weiß auch, dass Sie es gut meinen.« Lidia seufzte, griff nach seiner Hand und führte ihn zu einem kleinen Promenadenrestaurant, das für Valdorian wie eine Mischung aus Bistro und Imbisstube aussah. Dort nahmen sie an einem Ecktisch Platz, mit freiem Blick übers Scharlachrote Meer. Die Sonne berührte den Horizont, schien das Wasser in Blut zu verwandeln. Oben kreisten einige tintiranische Möwen und pfiffen. »Aber ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen, dass es manchen Menschen nicht oder nicht nur um solche Dinge geht? Was für Sie wichtig ist, Dorian, hat für andere Personen vielleicht nicht die gleiche Bedeutung.«
»Horan?«, fragte Valdorian und lächelte schief.
»Auch andere Philosophen haben sehr viel darüber geschrieben. Sie sollten sich mehr Zeit nehmen, darüber zu lesen.«
Der Kellner kam. »Hallo, Lidia«, sagte er und lächelte. »Das Übliche?«
Sie erwiderte das Lächeln. »Ja, einen Feuerbecher für mich. Und Sie, Dorian? Nichts Alkoholisches, nehme ich an?«
»Alkohol beeinträchtigt die Funktionsweise des Gehirns«, sagte er ernst. »Ich habe nie verstanden, warum manche Leute solchen Gefallen daran finden, Alkohol zu trinken.«
»In Maßen hat er durchaus etwas für sich.« Lidia lachte leise und schüttelte den Kopf. »Es gibt noch immer einige Dinge, die Sie lernen können, Dorian.« Und zum Kellner: »Einen Feuerkelch und einen Fruchtsaft.«
»Kommt sofort«, erwiderte der junge Mann. »Sehen wir uns morgen, Lidia?«
»Ich denke schon.«
Der Kellner ging fort.
»Sie kennen ihn?«, fragte Valdorian überrascht. »Und Sie treffen sich mit ihm?«
Lidia lachte, beugte sich dann vor und berührte seine Hand. »Er ist ein Studienkollege, der sich hier ein wenig Geld verdient. Morgen findet eine interessante Vorlesung über die Xurr statt, und wir werden sie beide besuchen.« Sie sah ihm tief in die Augen. »Sie sind doch nicht etwa eifersüchtig, oder?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Valdorian ein wenig zu schnell. Eifersüchtig? Auf einen einfachen subalternen Studenten, der arbeiten musste, weil er nicht genug Geld hatte? Absurd. Solche Personen bedeuteten nichts. Und das galt auch für alle anderen Bewohner der »Normalität«, der
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