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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Teil ihres Selbst verzichtete nicht auf Phantasievorstellungen von einem gemeinsamen Leben mit Dorian – absolute Gewissheit gab es nie. Aber die Stimme der Unsicherheit wurde leiser und war dadurch leichter zu ertragen.
    Sie richtete sich auf.
    Der Greis streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist noch nicht zu spät. Du kannst wieder gutmachen, was du mir angetan hast. Gib mir Glück. Geh nicht durch die Tür.«
    Die Tür …
    Lidia betrachtete sie und versuchte, einen emotionalen Eindruck von ihr zu gewinnen. Ein Portal aus Holz, mitten im Nichts. Der Verstand erkannte die metaphorische Bedeutung, und das Gefühl bestätigte diesen Eindruck: Wenn sie das Portal durchschritt, so ließ sie etwas Altes hinter sich zurück und begann etwas Neues.
    »Es ist noch nicht zu spät«, wiederholte der Greis. »Gib mir das Glück, das du mir vorenthalten hast.«
    »Jeder von uns muss seinen Weg selbst wählen«, sagte Lidia sanft. »Du hättest mein Konfident sein können. Leb wohl, Dorian.«
    Sie trat zur Tür.
    »Nein!«, keifte der Greis. »Bleib hier und sieh mich an. Sieh nur, was aus mir geworden ist. Und du bist schuld daran!«
    Lidia öffnete die Tür im Nichts, trat hindurch …
     … und fand sich vor dem schwarzen Obsidianblock des Lehrzimmers wieder. Hrrlgrid sah sie an, und in seinen schwarzen Augenschlitzen zeigte sich ein Glanz, der nicht allein vom reflektierten Licht stammen konnte.
    »Sie haben die Stimmen gehört, nicht wahr?«, fragte er leise.
    Lidia schwankte und hielt sich am Rand des Obsidianblocks fest. »Ja«, bestätigte sie. »Und noch mehr.«
     
15. August 301 SN ·  linear
     
    »Sie alle haben die Stimmen der Steine gehört«, sagte die Betreuerin Rita. »Jeder von Ihnen auf eine eigene Art und Weise. Möchten Sie davon erzählen?«
    Sie saßen im Kreis, auf der Kuppe eines Hügels, der einen weiten Blick über Bellavista gewährte. Das Scharlachrote Meer glitzerte im Sonnenschein.
    »Es war … seltsam«, sagte Joan Gordt. Sie hatte kurzes, aschblondes Haar und ein schmales Gesicht, ebenso wie ihr Zwillingsbruder Juri. Ihre braunen Augen blickten in die Ferne. Die Gordt-Zwillinge waren jung, gerade erst achtzehn Standardjahre alt, aber ein Teil der Unreife, die Lidia noch am vergangenen Tag in ihren Gesichtern gesehen hatte, war verschwunden. »Ja, ich habe die Stimmen gehört, und sie schienen vom Anfang der Zeit zu stammen. Sie zeigten mir, dass ich … ich selbst bin.« Bei diesen Worten warf sie Juri einen scheuen Blick zu. »Ich bin Joan.«
    »Ich verstehe«, sagte die Betreuerin. Rita hatte langes, feuerrotes Haar und ein sanftes Wesen, das einen auffallenden Kontrast dazu bildete. Lidia schätzte sie auf etwa fünfzig Standardjahre. »Sie haben nichts verloren, sondern etwas hinzugewonnen. Die besondere Beziehung zwischen Ihnen beiden hat durch die Erkenntnis Ihrer Individualität nicht nachgelassen, sondern ist gewachsen. Sie möchten ein starkes Wir sein, aber Sie dürfen dabei nicht vergessen, dass Sie einzelne Personen sind.«
    Die Gordt-Zwillinge hielten sich an den Händen und nickten.
    Lidia wusste natürlich, worum es bei diesen Gruppengesprächen ging: Die Schüler sollten sich gegenseitig bei der Selbsterkenntnis helfen. Aber an diesem Tag wäre sie lieber allein gewesen. Sie drehte den Kopf und blickte zum Meer, stellte sich vor, über den Strand zu wandern, allein mit ihren Gedanken. Ihr Blick glitt weiter, zu den Hängen der anderen Hügel, aber die Valdorian-Villa war von hier aus nicht zu sehen.
    »Und Sie, Cora?«, fragte die Betreuerin. Sie benutzte die ursprünglichen Namen der Schüler, nicht ihre Pilotennamen.
    Auch die schüchterne, in sich gekehrte Cora hatte sich verändert. Ihr Gesicht wirkte nicht mehr ganz so verschlossen wie zuvor, und manchmal deuteten ihre Lippen ein zaghaftes Lächeln an. Lidia schätzte sie auf Anfang zwanzig, einige Jahre jünger als sie. Glattes blondes Haar reichte ihr bis auf die Schultern, und bis zum vergangenen Tag hatte sich in den großen blauen Augen immer ein Schatten von Kummer gezeigt. Aber durch den Kontakt mit den Steinen und den Heiligen Worten der Kantaki war es zu einem Wandel gekommen.
    »Ich habe Liebe gefunden«, sagte Cora leise. Es klang fast wie ein Seufzen. »Die Steine haben mir gezeigt, dass es möglich ist, mich zu lieben.«
    Diese Worte weckten Lidias Interesse. Sie musterte Cora und hielt vergeblich nach besonderen Merkmalen Ausschau, die auf genetische Manipulation hinwiesen. Sie hatte gehört, dass Cora zu

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