Kantaki 01 - Diamant
Besten, schilderte amüsante Zwischenfälle, die sie selbst und auch Studienkollegen betrafen. Sie lachten viel, und das war wichtig, denn das Lachen hielt den Kummer fern.
Kurze Zeit später kam Roald.
Lidia hörte, wie er vor der Tür mit den Füßen aufstampfte, damit sich der Schnee von den Stiefeln löste. Er trug einen dicken Wollpullover und eine einfach Leinenhose. Die Kälte hatte sein Gesicht gerötet.
Während der vergangenen Jahre war er älter geworden, viel älter, aber Lidia verbarg ihre erschrockene Verblüffung hinter einer Maske der Freude.
»Hast du endlich mal den Weg nach Hause gefunden?«, brummte Roald, doch seine Augen leuchteten, und hinzu kam ein Lächeln. Er umarmte seine Tochter, nahm dann am Tisch Platz. Lidia bemerkte seinen Bauchansatz, und auch das war neu – Roald hatte bisher immer großen Wert darauf gelegt, körperlich in Form zu bleiben. Sie empfing einen mahnenden Blick von ihrer Mutter und bestätigte ihn mit einem kaum merklichen Nicken.
»Ich habe mit einem neuen Roman begonnen«, sagte Roald während des Essens. »Es befindet sich alles hier drin.« Er tippte sich an die Stirn. »Ich brauche es nur noch aufzuschreiben.«
Lidia dachte an den Infonauten, den ihr Vater auf den kleinen Tisch im Flur gelegt hatte.
»Kommst du gut voran?«, fragte sie.
»Ich möchte sicher sein, genau die richtigen Worte zu finden«, erwiderte Roald. »Manchmal dauert das.«
Eine Resurrektion hätte ihm vermutlich geholfen, aber solche Behandlungen waren sehr teuer. Und vielleicht wäre selbst eine derartige Revitalisierung nicht imstande gewesen, den verbrauchten Vorrat an Kreativität zu erneuern.
»Dein neues Buch wird bestimmt ein großer Erfolg«, sagte Lidia und hoffte, dass es ehrlich klang.
»Ja.« Roald nickte und aß die von Lidia geschnittenen Bohnen. »Und du? Was macht dein Studium?«
Lidia hatte in ihren letzten Mitteilungen darauf hingewiesen. »Ich studiere nicht mehr«, sagte sie ruhig. »Ich habe mit der Ausbildung zur Kantaki-Pilotin begonnen.«
Ihr Vater musterte sie. »Bist du sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben?«
Lidia erlebte ein sonderbares Déjà-vu-Gefühl und dachte an die Visionen während des Kontakts mit den fünf Kantaki-Steinen in der Pagode.
»Ja, das bin ich«, sagte sie.
»Was ist mit Dorian?«, fragte Carmellina. Sie war aufgestanden und brachte den Kaffee: drei kleine Tassen, gefüllt mit schwarzem, starkem Mokka.
Lidia trank einen Schluck und ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Wir haben uns getrennt«, sagte sie schließlich. »Als wir erkannten, dass unsere Lebenswege in verschiedene Richtungen führen.«
Ihr Mutter war so taktvoll, das Thema zu wechseln. Später, während es draußen schneite, saßen sie im Wohnzimmer vor dem Kamin, blickten in die Flammen eines echten Feuers und tranken Glühwein, während Carmellina stimmungsvoll auf dem Klavier spielte. Lidias Vater las ein Buch, aber seine Aufmerksamkeit schien nicht ganz dem Text zu gelten, denn immer wieder griff er nach der Hand seiner Tochter, drückte sie kurz und ließ sie wieder los. Im Flur hatte Lidia einen kurzen Blick auf das Display des Infonauten geworfen und die mit »Inhalt« gekennzeichnete Schaltfläche berührt. Der neue Roman ihres Vaters hieß »Die Türme des Irgendwo«, und auf der ersten Seite stand: »Für Lidia.« Eine zweite Seite gab es nicht. Roald DiKastro hatte noch kein Wort geschrieben.
Lidia beobachtete die Flammen im Kamin, die mal größer und mal kleiner wurden, sich ständig veränderten und nie das gleiche Muster bildeten. Sie wusste, das auch dieser Moment einzigartig war und dass jeder Versuch, ihn festzuhalten, scheitern musste. Die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten, rannen ihr wie Sand durch die Hände. Ticktack, flüsterte die mechanische Uhr im Flur, und jedes Ticken fügte dieses Stück Gegenwart der Vergangenheit hinzu. Schon bei den ersten Trainingsflügen mit Kantaki-Schiffen würde sie normalen Zeitstrom verlassen, und dadurch wuchs die temporale Distanz zu allen Personen, die innerhalb des regulären Zeitkontinuums weiterlebten. Bestimmt bekam Lidia dann und wann Gelegenheit, ihre Eltern wiederzusehen, aber wie viel subjektive Zeit mochte dann für Carmellina und Roald vergangen sein? Dies war ein Abschied ganz besonderer Art, und deshalb versuchte Lidia, jede einzelne Sekunde bewusst zu erleben.
Ihre Mutter hatte das kleine Zimmer vorbereitet, an das sich Lidia aus ihrer Kindheit und Jugend erinnerte. Sie fand
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