Kantaki 01 - Diamant
gegangen und pflückte bunte Blumen. Es hatte das gleiche krause schwarze Haar wie sie.
»Ich habe auf dich gewartet, Lidia«, sagte das Mädchen. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
»Aida?«, fragte Lidia, und Fassungslosigkeit bahnte sich einen Weg durch die metaphysische Ruhe, die ihren inneren Kosmos bestimmte.
Das Mädchen stand auf und drehte sich um. Ja, es war Aida, Lidias Schwester, vor vielen Jahren durch einen Unfall ums Leben gekommen.
»Gefallen dir die Blumen?«, fragte Aida mit der glockenhellen Stimme, an die sich Lidia erinnerte.
»Sie sind … schön«, sagte Lidia und sah das schmale Gesicht mit den großen Augen, umrahmt vom schwarzen Haar. Als Siebenjährige war Aida gestorben. Eine Laune des Schicksals hatte ihr die Möglichkeit genommen, ihr Leben zu leben, das eigene Potenzial zu erkennen und zu entfalten, Träume zu haben, zu hoffen, zu lachen, glücklich zu sein.
Aida senkte den Kopf. »Ich hätte nicht auf den Felsen am Wasser klettern sollen«, sagte sie, und es klang traurig. »An den schlüpfrigen Stellen kann man leicht abrutschen.«
»Aida …« Lidia hätte ihre kleine Schwester am liebsten in die Arme geschlossen und nie wieder losgelassen. Aber etwas hinderte sie daran. Sie konnte sich bewegen, war nicht gelähmt, doch ein rätselhafter Teil von ihr selbst entschied, stehen zu bleiben und sich Aida nicht weiter zu nähern.
»Du … wusstest, dass ich hierher kommen würde?«
»Ja«, bestätigte das Mädchen. »Ich habe hier auf dich gewartet, um dir den Weg zu weisen.«
»Den Weg?«
»Ja.« Aida hob den Kopf und streckte die Hand aus.
Die Wiese war geschrumpft, hing in einem Nichts, das weder Farbe noch Gestalt hatte. Direkt vor dem Mädchen begann ein Pfad, ein braunes Band aus festgetretener Erde, das durchs Grün der Wiese reichte und sich dort fortsetzte, wo sie aufhörte. Dieses Band erstreckte sich durch die Leere und endete an einer Tür, einem hölzernen Portal. Neben dem Portal kauerte jemand auf einem Boden, der gar keine erkennbare Substanz hatte, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen, die Hand wie um Almosen bettelnd ausgestreckt.
»Siehst du? Diesen Weg wollte ich dir zeigen. Und jetzt muss ich gehen. Gib gut auf dich Acht, Schwester.« Aida winkte fröhlich und lief mit ihren Blumen fort, über den Rand der Wiese hinweg ins Nichts. Sie wurde immer kleiner, bis sie in der Leere verschwand.
Lidia sah ihr nach und spürte einen Kummer, der ihr zwar keine Tränen in die Augen trieb, aber Herz und Seele belastete. Schließlich drehte sie sich um und folgte mit langsamen Schritten dem Verlauf des Weges, den Aida ihr gezeigt hatte. Die Wiese blieb hinter ihr zurück, und es knirschte leise unter ihren Schuhen. Sie näherte sich dem hölzernen Portal im Nichts und dem links neben ihr hockenden Bettler. Als sie ihn fast erreicht hatte, hob er den Kopf, und die Kapuze rutschte zurück, zeigte das Gesicht eines uralten Mannes.
»Siehst du, was du angerichtet hast?«, fragte der Greis mit zittriger Stimme. »Du bist für dies verantwortlich.«
Wie seltsam, das Du von ihm – es deutete auf etwas hin, zu dem es nie gekommen war, auf die besondere Intimsphäre eines gemeinsamen Lebens.
»Dorian?«
»Wir hätten miteinander glücklich sein können. Durch deine Weigerung, mich zu heiraten, bin ich unglücklich geworden. Du bist schuld an dem, was ich jetzt bin.«
»Es ist nie meine Aufgabe gewesen, dich glücklich zu machen, Dorian. Jeder von uns muss selbst den Weg zum Glück finden, und niemand kann verlangen, dass ihm ein anderer dabei hilft.«
»Du bist schuld«, beharrte der Greis. »Ich habe dir einen Ehekontrakt über zehn Jahre angeboten, und du hast abgelehnt. Für die Folgen, die sich daraus ergaben, trägst du die Verantwortung.«
»O nein, Dorian.« Lidia schüttelte den Kopf. »Da tust du Ursache und Wirkung Gewalt an. Hier gibt es keine logische Kausalität. Wir sind Menschen, Dorian, keine Dinge. Hast du das noch immer nicht begriffen?« Sie ging in die Hocke und sah dem alten Valdorian tief in die wässrig-grauen Augen. »Jeder von uns ist des eigenen Glückes Schmied, und niemand hat die Pflicht, einen anderen glücklich zu machen. Wenn so etwas geschieht, erfährt der Betreffende ein großes Privileg, und dann spricht man von Liebe. Aber niemand kann Anspruch darauf erheben, so wie du es versucht hast.«
Lidia lauschte dem Klang der eigenen Worte und fühlte sich von ihnen bestätigt. Es existierten nach wie vor Zweifel in ihr, und ein
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