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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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den Neuen Menschen gehörte – viele von ihnen waren an die besonderen Bedingungen von Extremwelten angepasst –, aber die junge Frau wirkte völlig normal, abgesehen vielleicht von ihrer überdurchschnittlichen Schönheit.
    »Haben Sie daran gezweifelt?«, fragte Rita. »Dachten Sie, man könnte Sie nicht lieben?«
    Einige Sekunden lang schien Cora mit sich selbst zu ringen und mied dabei die Blicke der anderen Schüler.
    »Ich bin ein Klon«, sagte sie schließlich. »Ich habe keine Eltern und bin nicht in einer Familie aufgewachsen.«
    Joan Gordt griff nach ihrer Hand. »Wir mögen dich«, sagte sie und wählte ganz bewusst das Du. »Du gehörst zu uns. Wir sind deine Familie.«
    »Niemand wird eine größere Familie haben als Sie«, sagte Rita. »Die Kantaki-Piloten sind eine große Gemeinschaft.«
    Cora nickte. »Davon haben mir die Stimmen erzählt. Sie zeigten mir eine Welt der Liebe.«
    Sie berichtete von ihren Erlebnissen, schilderte Visionen und Begegnungen. Lidia hörte fasziniert zu. Die Steine, so begriff sie plötzlich, hatten ihnen allen einen Spiegel vorgehalten, in dem sie sich selbst sahen, den innersten Kern des eigenen Wesens, die dort verborgenen Wünsche und Hoffnungen.
    Cora beendete ihre Schilderungen, und die Gordt-Zwillinge umarmten sie. Auch Lidia spürte Zuneigung, aber irgendetwas veranlasste sie, ruhig sitzen zu bleiben. Ein Leben ohne Liebe – wie schrecklich. Wie traurig und leer. Anteilnahme regte sich in ihr, gleichzeitig aber auch Argwohn. Plötzlich vermutete sie Metaphern und Symbole hinter allen Ereignissen und Beobachtungen der letzten Tage und Wochen, stellte die Realität des Hier und Heute infrage. Träume ich?, dachte sie. Ist dies alles eine Reise durch meine Innenwelt? Sie sah sich um, blickte zur Sonne hoch, deren Licht durch die Zweige einiger Schatten spendender Bäume fiel, sah erneut über Bellavista hinweg zum Scharlachroten Meer und versuchte dabei, ihre Gedanken zu ordnen. Der sanfte Wind fühlte sich real an, und sie saß auf festem Boden, aber Lidias Argwohn blieb; sie zweifelte an der Wirklichkeit, hielt es für möglich, dass sie nur Schein war, eine Fassade, die ihr Vertrautes vorgaukelte und hinter der sich ein fremder Zweck verbarg. Berühre ich noch immer die Steine?, überlegte sie. Ist dies eine weitere Vision?
    Cora lächelte und saß dicht neben Joan, als sich Rita an Feydor wandte. »Und Sie?«
    Feydor war einige Jahre älter als Lidia und stammte von Schanhall, einem hauptsächlich von christlichen Fundamentalisten bewohnten Planeten, der zum lockeren Bund der spiritualistischen Welten gehörte und vor fast dreitausend Jahren vom »Erleuchteten« und seinen Anhängern besiedelt worden war, den ersten interstellaren Kolonisten der Menschheit. Seit drei Jahren reiste Feydor von einem Planeten zum nächsten und hatte auch den Islamischen Bund besucht, immer auf der Suche nach seinem Gott, den er »schlagendes Herz des Universums« nannte. Religiosität und Frömmigkeit bildeten den inneren Motor, der ihn sein ganzes Leben lang angetrieben hatte. Die Entdeckung der Gabe erlaubte es ihm, bei seiner Suche eine neue Richtung einzuschlagen. Auf Feydors Kopf zeigte sich dünner Haarflaum, und in seinem Gesicht fiel eine krumme Nase auf. Offenbar bevorzugte er Kleidung, die eine Nummer zu groß war, und wenn er sprach, erklang fast immer Demut in seiner Stimme.
    »Ich habe Gott gesehen«, sagte Feydor leise. »Ich habe ihn tatsächlich gesehen. Aber … er sah anders aus, als ich dachte.«
    »Nicht immer stimmt die Realität mit unseren Erwartungen überein«, erwiderte Rita. Sie wartete einige Sekunden, um Feydor Gelegenheit zu geben, noch etwas hinzuzufügen. Als er schwieg, wandte sich Rita an Lidia. »Und Sie? Was haben Sie gesehen?«
    »Mich selbst, glaube ich«, erwiderte Lidia, von der eigenen Antwort und ihrem hohen Wahrheitsgehalt erstaunt. »Ich bin meinen Eltern begegnet und meiner kleinen Schwester, die als Siebenjährige durch einen Unfall ums Leben kam. Aber ich glaube, ich habe vor allem mich selbst gesehen.« Mich selbst und meine Unsicherheit, dachte sie.
    Die Betreuerin sah sie an und schien alles perfekt zu verstehen.
    Lidia begann zu erzählen, und das Widerstreben schwand rasch. Als die Worte aus ihr herausströmten, wurde ihr klar, wie sehr sich gewünscht hatte, mit jemandem über alles zu sprechen, über Dorian und die schwierige Wahl. Tief in ihr regte sich der Verdacht, dass Rita diese Gelegenheit extra für sie geschaffen hatte, um

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