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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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den Böen eines Sturms. Seltsamerweise bewegte er nur Lidias Haar und strich ihr wie sanft über die Haut. Sie blickte zurück zur merkmallosen grauen Ebene, die in unbestimmter Entfernung mit dem grauen Himmel verschmolz, setzte dann einen Fuß vor den anderen und ging den Hang empor, zum Pavillon auf der Kuppe. Über ihm wehte eine Fahne, vom Wind halb zerrissen, und ihr Weiß war eine Anomalie in dieser grauen Welt. Zwei Personen saßen in dem Pavillon, ein Mann und eine Frau, und auch sie blieben ohne Farbe, graue Gestalten, sturmumtost, auf einem grauen Hügel, der aus einer grauen Ebene ragte.
    Lidia ging weiter und näherte sich dem Pavillon, hörte dabei die wütende Stimme des Sturms, der sie nur streichelte, sie ebenso unbehelligt ließ wie die beiden Personen im Pavillon. Als sie bis auf einige Meter herangekommen war, blickten die beiden Gestalten in ihre Richtung, und Lidia erkannte sie.
    »Mutter!«, rief sie. »Vater!«
    Wenn Roald DiKastro und Carmellina Diaz die Stimme ihrer Tochter hörten, so reagierten sie nicht darauf. Sie wandten sich wieder einander zu und setzten ihr Gespräch fort.
    »Ich denke oft an sie«, sagte Carmellina.
    »Sie hat ihre Entscheidung getroffen«, erwiderte Roald. »Das müssen wir akzeptieren.«
    »Aber war es die richtige Entscheidung?«
    »Das wird die Zukunft zeigen.«
    »Aber dann könnte es zu spät sein.«
    »Wir alle machen Fehler und lernen aus ihnen.«
    »Sie hätte ihn heiraten können.«
    »Wen meinst du?«, fragte Roald. Als ob er es nicht wüsste.
    »Ihren Dorian. Er hätte ihr jeden Wunsch erfüllen können.«
    »Aber wäre sie glücklich geworden?«
    Wieder drehten Roald und Carmellina DiKastro den Kopf, sahen ihre Tochter an. »Hat sie die richtige Entscheidung getroffen?«, fragte Carmellina noch einmal.
    Lidia trat einen Schritt näher …
     … und stand am Rand einer Schlucht – eine gewaltige Kerbe im Fels der Welt, wie mit einem riesigen Messer geschnitten, und unergründlich tief. Lidia blieb unmittelbar vor dem Abgrund stehen, sah unten, hunderte von Metern tiefer, keinen Boden, sondern Dunstschwaden, die alles verhüllten. Hier oben wehte der gleiche zornige Wind wie beim grauen Hügel, aber erneut blieb Lidia nahezu unberührt von ihm. Er störte nicht, war wie eine sanfte Liebkosung und zupfte nur an ihrem Haar. Sie musste die andere Seite der Schlucht erreichen, daran zweifelte sie nicht eine Sekunde, und der einzige Weg führte über eine alte, heftig schwankende Hängebrücke. Seile knarrten, Holz knirschte, als der Wind an der Brücke zerrte.
    Einige Dutzend Meter trennten Lidia von der anderen Seite. Vorsichtig trat sie auf das erste Brett und hätte fast das Gleichgewicht verloren, bevor sie sich an den Seilen rechts und links festhalten konnte. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und achtete darauf, immer nur eine Hand von den Seilen zu lösen. Ihr Gewicht verlieh der Brücke kaum Stabilität. Sie blieb ein Spielzeug des Sturms, der jetzt stärker wurde, wie verärgert darüber, dass ihm ein schwacher Mensch die Stirn bot. Er heulte lauter, doch nach wie vor bewahrte etwas Lidia vor der vollen Wucht der Böen. Für die alte Hängebrücke gab es keinen solchen Schutz. Sie schwankte heftiger, schaukelte von einer Seite zur anderen, und dann gab eines der Seile nach. Es war der Beginn einer Kettenreaktion, denn die anderen Seile und Stricke konnten mit der zusätzlichen Belastung nicht fertig werden. Sie rissen ebenfalls.
    Lidia fiel.
    Aber sonderbarerweise regte sich keine Angst in ihr, als sie den Dunstschwaden tief unten entgegenstürzte. Das Heulen des Sturms blieb über ihr zurück, wich erst einer sonderbaren Stille und dann einem leisen, rhythmischen Geräusch, das nach fernem Seufzen klang. Als sie weiter fiel, von Dunst umschmiegt, entfaltete sich das Seufzen und offenbarte eine akustische Struktur, die aus zahlreichen Stimmen bestand. Lidia hörte sie, und mit dem geistigen Auge sah sie die Struktur, eine Form aus Tönen. Sie zählte die Stimmen nicht, aber sie wusste genau, dass es insgesamt fünfhundertfünfundfünfzig waren, dreimal die eins und dreimal die fünf. Sie sangen, sprachen und flüsterten, aber ihre Worte blieben undeutlich. Lidia versuchte, sich zu konzentrieren, um sie zu verstehen, denn sie fühlte, dass die Worte wichtig waren. Schließlich lichteten sich die Dunstschwaden, und sie …
     … stand auf einer Weise, einer grünen Wiese. Einige Meter vor ihr war ein kleines Mädchen in die Hocke

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