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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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deuteten ein Lächeln an, das im verschrumpelten Gesicht des Akuhaschi irgendwie seltsam und fehl am Platz wirkte.
    »Manchmal dauert sie nur fünf Wochen«, antwortete er. »Manchmal aber auch fünfzig Jahre.«
    Da war sie wieder, die Fünf. Lidia beschloss, sich bei Gelegenheit eingehender damit zu fassen. Sie wollte mehr über die Kantaki erfahren, sie verstehen.
    »Wovon hängt es ab?«, fragte Feydor, die Augen groß, die Stimme voller Demut.
    »Davon, wie schnell Sie lernen, wie stark Ihre Gabe ist. Und wie sich der Sakrale Kodex entwickelt.«
    Auch das war ein Aspekt der Kantaki-Kultur, der Lidia immer mehr faszinierte. Beim Sakralen Kodex, der das Verhalten der Kantaki bestimmte, handelte es sich nicht um etwas Starres und Unveränderliches, sondern um flexible Richtlinien, die jederzeit an neue Situationen angepasst werden konnten. Oft sprachen die Lehrer so davon wie von einer lebendigen, sich entwickelnden Entität, der die Kantaki mit Zuneigung, Achtung und Respekt begegneten. Aber er enthielt auch eherne, unveränderliche Regeln wie zum Beispiel das Verbot, in irgendeiner Form die Zeit zu manipulieren. Welches Durcheinander solche Manipulationen bewirken konnten, hatte die Menschheit vor Jahrhunderten während des tausendjährigen Zeitkriegs unter der Herrschaft der Temporalen erfahren.
    »Heute möchte ich Ihnen etwas zeigen«, sagte Hrrlgrid. »Etwas, das sowohl mit dem Kodex in Zusammenhang steht als auch mit den Fäden, denen Sie im Transraum begegnen werden.«
    Der Akuhaschi griff hinter den Obsidianblock und holte einen grauen, mit Silberarbeiten verzierten Kasten hervor. Er öffnete ihn, entnahm ihm fünf schwarze, unterschiedlich große Steine und legte sie in einer bestimmten Reihenfolge auf den Obsidian.
    »Dies sind die Steine mit den Heiligen Worten der Kantaki«, sagte Hrrlgrid. »Jeder Stein trägt einhundertelf, und insgesamt sind es fünfhundertfünfundfünfzig, dreimal die eins und dreimal die fünf.«
    Feydors Gesicht, so stellte Lidia fest, brachte eine solche Ehrfurcht zum Ausdruck, als hätte er gerade eine göttliche Offenbarung erfahren. Die Gordt-Zwillinge wirkten neugierig. In Coras Zügen hingegen zeigte sich vager Kummer, wie so oft.
    »Natürlich sind es nicht die Originale, sondern Kopien«, fuhr Hrrlgrid fort. »Ihr gewöhnliches Selbst sieht nur die Symbole der Heiligen Worte, ohne den Sinn in ihnen zu erkennen. Aber mit der Gabe sollten Sie imstande sein, zumindest einen Teil der Botschaft zu empfangen, die uns aus ferner Vergangenheit erreicht. Bitte kommen Sie nacheinander nach vorn und berühren Sie die Steine.«
    Die beiden Gordt-Zwillinge machten den Anfang und berührten die Steine gemeinsam. Im subtilen Spiel aus Licht und Schatten beobachtete Lidia, wie sich ihre Gesichter veränderten, aber dann senkten Joan und Juri den Kopf – das ganze Ausmaß der mimischen Veränderung blieb Lidia verborgen. Nach den Zwillingen trat Feydor zum Obsidianblock und tastete nach den Steinen. Er hatte sie kaum berührt, als er zu zittern begann. Nach nur zwei oder drei Sekunden ließ er sie wieder los, wankte fort und blieb im Schatten stehen, mit dem Gesicht zur Wand.
    Cora bedachte ihn mit einem unsicheren Blick, als sie aufstand und ebenfalls zum Obsidianblock ging. Sie zögerte kurz, bevor sie die Hand hob und den Steinen entgegenstreckte. Der Kontakt schien bei ihr zunächst gar nichts zu bewirken, doch dann sah Lidia, wie Kummer und Scheu aus den Zügen der jungen Frau verschwanden. Ihr Gesicht glättete sich wie eine Decke, die zuvor kraus gewesen war und nicht ihre ganze Schönheit hatte zeigen können. Cora wandte sich vom Obsidianblock ab, und ihre Lippen formten ein Lächeln, als sie wieder Platz nahm.
    »Und jetzt Sie, Diamant«, sagte Hrrlgrid ruhig.
    Lidia stand auf, ging an Cora und den Gordt-Zwillingen vorbei zum schwarzen Block. Dort blieb sie stehen und sah kurz zu Feydor, der noch immer im Schatten stand.
    »Was ist geschehen?«, fragte sie leise.
    »Sie haben die Stimmen der Steine gehört«, erwiderte der Akuhaschi. »Jeder auf seine Weise.« Und er vollführte eine einladende Geste.
    Lidia zögerte nur kurz, streckte die Hand nach einem der fünf Steine aus und berührte ihn.
    Alles veränderte sich.
    Sie stand am Hang eines Hügels, in einer Welt, die ihre Farben verloren hatte – es zeigten sich nur verschiedene Schattierungen von Grau. Ein bleifarbener Himmel wölbte sich über diesem unbekannten Ort, und blattlose Bäume, wie Gerippe, duckten sich unter

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