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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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anfangen konnte. Sie glaubte sich in einem Zimmer voller Spinnweben, aber wenn sie sich in ihnen bewegte, zerrissen die filigranen Fäden nicht, sondern glitten beiseite und formten neue Muster. Von Floyds Präsenz geleitet, griff sie nach einem dieser Fäden, der sich ein wenig von den anderen zu unterscheiden schien. Sanft hielt sie ihn fest, und er wand sich hin und her, wie ein Geschöpf, das ihrem Griff entkommen wollte. Ihre Perspektive verschob sich, und sie sah, dass solche Fäden alles Existierende – alle Sonnen und Planeten, alle Moleküle und Atome – miteinander verbanden. Sie waren wie die Substanz des Raums und der Zeit. Und sie zeigten den Weg. Am Ende des Fadens, den Lidia in ihren geistigen Händen hielt, drehte sich eine ferne Welt um die eigene Achse: Archoxia, hundertfünfzig Lichtjahre entfernt, das Ziel dieses Fluges. Sie verband den Faden mit dem Schiff – die Gabe in ihr wusste genau, worauf es dabei ankam –, und Krirs Koloss glitt zufrieden durch den Transraum.
    »Ausgezeichnet«, sagte Floyd. »Jetzt zeige ich dir etwas.«
    Lidia fand sich auf einem hohen Turm wieder, direkt neben Floyd. »Wo ist das Schiff?«, fragte sie erschrocken, drehte sich um und hielt vergeblich nach dem dunklen Riesen Ausschau.
    Floyd lachte leise. »Mach dir deswegen keine Sorgen, Diamant. Eine Zeit lang kommt das Schiff allein zurecht. Du wirst merken, wann es dich wieder braucht.« Er überlegte kurz. »Eigentlich seltsam, hier von ›Zeit‹ zu sprechen. Dieser Begriff hat so tiefe Wurzeln in unserer Sprache, dass wir nicht umhin können, ihn zu verwenden. Doch hier, an diesem Ort, hat er seine Bedeutung verloren. Wusstest du, dass es in der Sprache der Kantaki fünfundfünfzig verschiedene Ausdrücke für Zeit gibt? Und nicht einen einzigen für Krieg?«
    Er breitete die Arme aus, und Lidia stellte fest, dass er keinen lindgrünen Overall mehr trug, sondern einen Umhang, der sie an eine Mönchskutte erinnerte. Das Kleidungsstück schien der Umgebung angemessen, denn sie spürte … Erhabenheit. Vorsichtig trat sie zur Brüstung und blickte in die Tiefe. Der Turm wuchs aus dem Dunkel des Transraums, umgeben von den Fäden. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass er sich über ihr fortsetzte, obgleich sie auf ihm stand.
    »Die Umgebung ist Illusion«, sagte Floyd. »Etwas, das unseren gewöhnlichen Sinnen schmeichelt, die Vertrautes wahrnehmen wollen. Such aus, was dir am besten gefällt.«
    Er bewegte die Hände, und die Umgebung veränderte sich. Lidia stand: im Hof eines Schlosses mit Mauern aus Sternen und Zinnen aus eingefangenen Kometen; auf einem Surfbrett, das über dimensionale Wellen glitt; auf einer von Blumen gesäumten Straße, die aus der Unendlichkeit in die Unendlichkeit führte, begleitet vom Zeitstrom in Form eines plätschernden Baches; an einem Fenster, die Gardinen vom Wind der Ewigkeit bewegt …
    Sie wählte die Straße. Neben ihr bückte sich Floyd, hob einen kleinen Stein auf und warf ihn in den Bach. Er lachte, und es klang nicht nach einem müden Alten, sondern nach dem vergnügten Lachen eines Heranwachsenden. Seine Augen blieben weiß und blind, aber trotzdem sah er alles mit der Klarheit jahrhundertelanger Erfahrung.
    Dann wurde er wieder ernst. »Wir sind hier in einem Teil des Transraums, den die Kantaki ›Sakrium‹ nennen. Während des Transits schicken sie ihr Bewusstsein hierher, um zu meditieren. Darin scheinen sie den Sinn ihrer Existenz zu sehen. Sie leben, um nachzudenken, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.«
    »Sie suchen nach dem Sinn«, sagte Lidia leise.
    »Oh, sie haben ihn gefunden. Aber trotzdem meditieren sie weiter. Seit Jahrtausenden. Und auch das ist ein zeitlicher Begriff, der mehr bedeutet als das, was er für uns zum Ausdruck bringt.« Floyd zuckte kurz mit den Schultern. »Vielleicht suchen die Kantaki jetzt nach dem Sinn des Sinns. Wenn jemand alle Antworten gefunden hat – ich schätze, dann kommt ein anderer und stellt eine neue Frage. Nun, was ich dir wirklich zeigen wollte, ist dies.«
    Er hob die rechte Hand, und die Straße löste sich auf. Juwelenartiger Glanz erstrahlte um sie herum, ein Funkeln und Gleißen, das nicht blendete und von zahllosen kleineren und größeren Kugeln ausging. Sie bewegten sich wie schillernde Seifenblasen im Wind, und zwischen ihnen tanzten Lichter. Eine solche Pracht hatte Lidia nie zuvor in ihrem Leben gesehen, und sie blickte sich staunend um, nahm alles in sich auf.
    »Dies ist das Plurial«, sagte Floyd, und jetzt

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