Kantaki 02 - Der Metamorph
den memorialen Traum, der von seinem Volk erzählte, von den Anfängen der Eternen bis zum Heute, bis zur Gefangenschaft im größten und sichersten temporalen Kerker, den die Kantaki und Feyn jemals geschaffen hatten, dem Null. Nur das Ich eines Säkularen war imstande, mit so viel Wissen fertig zu werden, und Agoron nahm es langsam auf. Flüsternde Stimmen und zarte Bilder erzählten vom Initialkonflikt, der die Eternen zu dem gemacht hatte, was sie heute waren, und während das Selbst im Traum lauschte und betrachtete, bemerkte es ein… störendes Etwas, wie eine Schliere auf einer Palette leuchtender Farben, wie ein… leises, ganz leises Schrillen in einer ansonsten perfekten Melodie. Agoron wandte sich dem sonderbaren Etwas zu, doch bevor er den Fokus seiner Gedanken darauf richten konnte, endete die Ruhe des memorialen Traums.
Er öffnete pechschwarze Augen und fand sich in der Erinnerungskammer wieder. Zahllose Datenmodule bildeten Höcker an Wänden, Decke und Boden, und zwei dünne Nervenleitungen verbanden ihn mit dem Informationsjunktim.
Sie haben es bemerkt, flüsterte es in einer Ferne, von der ihn nur wenige Wände trennten. Die Stimmen wurden schnell lauter, ertönten nicht nur in Agorons Kopf, sondern erreichten auch das Gehör. »Sie haben es bemerkt.«
Agoron verstand plötzlich, erzitterte kurz und löste die Nervenverbindungen zum Junktim. Das Ruhefeld drehte ihn langsam und ließ ihn gleichzeitig nach unten sinken. Als seine Füße den Boden berührten, lief er sofort los, verließ die Erinnerungskammer und kurz darauf auch den Bereich der Stadt Äon, der den Säkularen vorbehalten blieb.
»Alle Observanten zum Einsatz!«, rief er und wusste, dass seine Stimme überall in der Stadt und auch in den Beobachtungstunneln zu hören war. »Suggestoren, halten Sie sich bereit.«
Bestätigung. Bestätigung. »Bestätigung.«
Die Zeitwächter der Kantaki auf Munghar… Die Veränderungen in den Ereignis- und Wahrscheinlichkeitsmustern blieben ihnen nicht länger verborgen. Sie waren aktiv geworden.
Mit einer Kollektorkapsel verließ Agoron die Stadt und flog an der Zeitflotte vorbei, wo man inzwischen mit Vorbereitungen für den baldigen Start begonnen hatte.
Der Augenblick, der über alles entschied, rückte näher, sowohl in der fernen Zukunft als auch hier. Agoron fühlte die Bürde der Verantwortung, erlaubte aber nicht, dass sein Denken und Empfinden dabei verweilten. Die Verantwortung war enorm, das wusste er am besten, doch gerade jetzt durfte er sich nicht ablenken lassen. Während ihn die Kollektorkapsel zum Rand des Null trug, dem von Kantaki und Feyn geschaffenen Schild entgegen, verband er sich mit den Systemen der Kapsel, die sein Selbst erweiterten: Er empfing die von den Observanten ermittelten Daten, sah die Zeitströme und die Turbulenzen in ihnen, Linien wie die Fäden, denen die Kantaki-Schiffe im Transraum folgten, Schlangen und Aalen in den temporalen Flüssen gleich.
Seinem neuen Ich, dem Bewusstsein des Säkularen, standen neue Möglichkeiten offen, deren Potenzial Agoron erst noch erschließen musste. Aber eines war schon jetzt klar: Sein Blick reichte viel weiter ins temporale Chaos jenseits des Schildes, ein ganzes Stück die Zeitschächte in Richtung Zukunft hinauf.
»Von jetzt an wird keine Rücksicht mehr genommen«, sagte er, und seine Stimme erreichte alle Eternen im Null, auch die anderen Mitglieder des Zirkels der Sieben. »Die Zeitwächter auf Munghar wissen, was wir vorhaben…« Bilder aus der Zukunft wehten ihm entgegen, zusammengesetzt aus Myriaden von den Observanten übermittelten Datenfragmenten. Sie zeigten fünf große Schiffe der Kantaki, noch größer als die meisten von ihnen, und an Bord… »Sie bringen einen Sporn zu dem Sonnensystem, dessen Zentralgestirn die Menschen Hades nennen. Er darf auf keinen Fall zum Einsatz gelangen.«
Agoron überprüfte seine Verbindungen mit den Systemen der Kollektorkapsel. Die von ihnen herbeigeführte Erweiterung seines Selbst war zur Absorption bereit.
Sorge und Furcht antworteten aus Äon und den Beobachtungstunneln, auch aus den Zeitschiffen.
»Bald sind wir frei«, sagte Agoron. »Bald sind wir frei. Suggestoren, geben Sie mir Ihre Kraft.«
Agoron vertraute sich dem Ruhefeld im Innern der Kollektorkapsel an und schloss die Augen.
Energie schwappte ihm entgegen, und die Expansion seines Ichs nahm sie auf, gab ihr die Form einer Nadel, mit der er den Schild durchstieß. Sie wuchs hinein in die
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