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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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vor vielen Jahren, und bei jenen Gelegenheiten hatte er keine Divoratoren gesehen. Er kannte sie nur von pseudorealen Darstellungen. Der größte Teil des Geschöpfs blieb in der Finsternis am Waldboden verborgen, und selbst die organischen Komponenten, die an einem Baum nach oben krochen, offenbarten in der Düsternis keine Einzelheiten. Dennoch wusste Eklund, dass es ein Divorator war; unglücklicherweise hatten ihm die Schwärmer wohl keine andere Beute gemeldet.
    Er rief sich ins Gedächtnis zurück, was er über diese Wesen wusste. Weder Pflanze noch Tier – Biologen verglichen die Divoratoren mit einer Mischung aus Schnecke, Pilz und Amöbe. Sie flossen und gruben sich durch den Waldboden und schickten die Schwärmer aus, wenn sie hungrig wurden. Entdeckten die ausgesandten Augen und Ohren etwas, so stülpte der betreffende Divorator seinen Magen nach oben und verschlang das Ziel, in diesem Fall einen ganzen Riesenbaum mit allem, was sich auf ihm befand.
    Eklund sah erneut nach unten. Der Magen des Divorators umschlang den Baum von allen Seiten, dehnte sich immer mehr aus und wuchs nach oben, langsam, aber mit erbarmungsloser Zielstrebigkeit.
    Der Weg nach unten führte in den sicheren Tod. Eklund hielt sich am Geländer fest, neigte den Kopf nach hinten und blickte in die Höhe. Ein jüngerer, agilerer Mann wäre vielleicht imstande gewesen, am Stamm emporzuklettern, obwohl er nur wenig Halt bot, aber Eklund begriff sofort, dass so etwas für ihn nicht infrage kam. Selbst wenn er es irgendwie fertig gebracht hätte, nach oben zu klettern – auch der Wipfel des Riesenbaums bot keine Sicherheit. Der Magen des Divorators würde den Weg nach oben fortsetzen und mit der Verdauung beginnen, sobald er alles fest umschlossen hatte. Natürlich gab es Verbindungen zu anderen Bäumen, Äste und Zweige, Brücken aus Flugmoos, die klebrigen Stege von Lauerern, Wege durch die sechs Hauptetagen des Kontinentalwaldes. Aber das Beschreiten dieser Pfade erforderte großes Geschick und eine Kraft, die Eklund fehlte.
    Er saß in der Hütte fest.
    Wie viel Zeit blieb ihm noch? Sein Blick kehrte nach unten zurück, und er versuchte abzuschätzen, wann der Magen des Divorators die Hütte erreichen würde. In etwa fünfzehn Minuten, schätzte er.
    Sein Leben reduzierte sich plötzlich auf eine Viertelstunde.
    In der Hütte hielt er nach Dingen Ausschau, die sich eventuell als Waffe verwenden ließen, obgleich er wusste, wie sinnlos eine solche Suche war. Abgesehen von Feuer gab es keine wirkungsvolle Waffe gegen einen Divorator. Es blieb nur die Flucht, und genau diese Möglichkeit stand Eklund nicht offen.
    Noch vierzehn Minuten. Oder nur noch dreizehn?
    Eklund verließ die Hütte, blieb auf der Veranda stehen und widerstand der morbiden Versuchung, noch einmal nach unten zu sehen. Stattdessen rief er so laut er konnte: »Raimon, wo bist du? Ich brauche deine Hilfe.«
    Das Kratzen und Schaben wurde lauter. Niemand antwortete.
    Eklund atmete tief durch, besann sich auf das Elysium und…
    … fand sich vor dem alten Portal aus verwittertem Holz wieder. Er drückte einen Flügel auf, mit einer Hand, die aus Gedanken und Hoffnung bestand, und dahinter erwarteten ihn helles Licht und… Kälte. Er stand am Rand einer weiten Eisfläche, die sich in frostigem Glanz bis zum Horizont erstreckte. Etwa fünfhundert Meter entfernt ragte ein Spindelturm auf, der genauso aussah wie die Türme in der toten Welt, in der Raimon und er der Frau ohne Gesicht begegnet waren. Dort bewegte sich etwas.
    »Raimon!«, rief Eklund und ging los. Er setzte so schnell wie möglich einen Fuß vor den anderen, obwohl er dadurch Gefahr lief, auf dem glatten Eis auszurutschen. Jede Sekunde zählte. Das Elysium mochte dem Geist Zuflucht bieten, nicht aber dem Körper, der nach wie vor auf der Veranda der Baumhütte stand. Wenn der Divorator ihn verschlang, endete sein Leben, auch wenn sich das Bewusstsein immer noch in der Welt über der Welt befand.
    Eklund hatte etwa hundert Meter zurückgelegt, als es unter ihm knirschte und knackte. Dünne Risse bildeten sich im Eis, Zackenlinien, die rasch länger wurden. Er versuchte, noch schneller zu gehen und eine Stelle zu erreichen, wo das Eis dicker war, aber plötzlich gab es unter ihm nach, und er fiel ins Wasser, dessen Kälte ihn beinahe lähmte…
    Eine Hand packte ihn, eine überaus starke Hand, obwohl sie einem zwölfjährigen Jungen gehörte, und zog ihn aus dem Wasser. Mühelos hob sie ihn hoch und setzte ihn

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