Kantaki 02 - Der Metamorph
auf dem Eis ab, das jetzt nicht mehr knackte und knirschte.
»Raimon…« Die Kälte ließ Eklund am ganzen Leib beben. Erstaunt stellte er fest, dass er noch immer seinen Gehstock hielt. »Ich brauche deine Hilfe!«
Der Junge hatte tausend Gesichter, eines über dem anderen, wie hauchdünne Membranen, die jemand miteinander verklebt hatte.
»Ich habe sie gesucht«, sagte Raimon, und seine Stimme klang traurig. »Ich habe sie gesucht, aber ich finde sie nicht.«
Eklund wollte das Elysium verlassen und in den Kontinentalwald zurückkehren, in die materielle Realität, doch die Szene um ihn herum veränderte sich nicht: eine Ebene aus Eis, in ihr ein einsamer Spindelturm. Der Junge hielt sie beide im Hier fest.
»Bitte, Raimon, wir müssen zurückkehren«, sagte Eklund. »Ein Divorator nähert sich der Baumhütte, und sein Magen wird mich, meinen Körper, in wenigen Minuten aufnehmen…«
»Ich finde sie nicht.« Raimon hob wie in Zeitlupe die Hände und presste sie an die Schläfen. »All die Stimmen… Es tut so weh.«
»Raimon…« Eklund berührte die Wange des Jungen – sie war so kalt wie das Wasser unter dem Eis. »Bitte, hilf mir…«
»Ich habe sie gesucht«, sagte der Junge, und diesmal erklang seine Stimme auf der Veranda. Eklund sah sofort, dass der Divorator die Plattform erreicht hatte, auf der die Hütte stand. »Überall habe ich sie gesucht, aber ich finde sie nicht.«
»Trag mich von hier fort!«, stieß Eklund hervor. »Verwandle dich in…«
Raimon – der nackte Raimon – sprang übers Geländer und fiel.
Eklund beobachtete, wie sich der Junge während des Sturzes verwandelte. Aus dem menschlichen Körper wurde etwas, das nach einem Lanzenschaft aussah, und Dutzende von kleinen, transparenten Flügeln gaben seinem Fall eine neue Richtung. Raimon, die Lanze, bohrte sich von der Seite in den nach oben gestülpten Magen des Divorators und verschwand ganz darin.
Eklund schloss die linke Hand fest um das Geländer der Veranda. Mit der rechten stützte er sich auf den Gehstock. Einige Sekunden lang geschah gar nichts, und eine sonderbare Stille herrschte im Kontinentalwald.
Der Boden unter Eklund vibrierte.
Was als leichte Vibration begann, wurde schnell zu einem heftigen Zittern, begleitet von einem erst leisen Pfeifen, das aber immer mehr anschwoll und eine schmerzhafte Intensität gewann. Schließlich hielt Eklund es nicht mehr aus. Er ließ den Gehstock auf die Veranda der Hütte fallen, löste die linke Hand vom Geländer und hielt sich die Ohren zu. Vermutlich hatte vor ihm noch kein anderer Mensch auf Kerberos dieses Geräusch gehört – es handelte sich um den Todesschrei eines Divorators.
Die Erschütterungen dauerten an, und es fiel Eklund sehr schwer, auf den Beinen zu bleiben. Er hielt die Hände an die Ohren gepresst, als er nach hinten taumelte, gegen die Wand der Hütte stieß und sich schwer an sie lehnte, um nicht zu fallen.
Eine Minute später hörte das grässliche Pfeifen abrupt auf, und auch die heftigen Vibrationen ließen nach. Eklund ließ die Hände sinken, bückte sich vorsichtig, nahm den Gehstock und wankte zum Geländer. Ein besorgter Blick nach unten zeigte ihm, dass sich die graue Masse des Divoratormagens vom Stamm des Riesenbaums löste und sich dabei immer mehr verflüssigte. Aus Muskelfleisch wurde Schleim und dann eine widerlich süß riechende Flüssigkeit, die nach unten tropfte und floss.
Aber in der sich auflösenden Masse gab es auch etwas, das nach oben strebte. An der einen Seite des Baums erschien ein Kopf im grauen, sterbenden Fleisch eines Geschöpfs, das kein Tier war, Raimons Kopf, gefolgt vom Oberkörper des Jungen. Doch wo sich zuvor die Arme befunden hatten, bewegten sich jetzt paddelartige Erweiterungen mit Saugnäpfen, die sich mit schmatzenden Geräuschen an der Borke des Baums festsaugten. Auch die Beine fehlten. An ihrer Stelle gab es mehrere nabelschnurartige, pulsierende Stränge, die nach unten hin dünner wurden und im Magen des sterbenden Divorators verschwanden.
Der Junge – das Wesen – kletterte langsam und mühevoll, das Gesicht eine Grimasse, die auf Schmerz und Erschöpfung hinwies. Er erreichte die Plattform unter der Hütte, zog sich zur Veranda hoch, blieb dort erschöpft liegen und atmete schwer.
»Ich will nicht töten«, brachte Raimon hervor und schnappte nach Luft. »Ich will nicht mehr töten.«
Eklund trat auf ihn zu, sank vor ihm auf die Knie und berührte den Oberkörper, aus dem noch immer die
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