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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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seltsamen paddelartigen Fortsätze ragten. Auch die Beine fehlten nach wie vor. Raimons Unterleib ging in die pulsierenden Stränge über, die nach unten ragten, in die Düsternis, zum toten Divorator hinab.
    »Du hast getötet, um Leben zu bewahren«, sagte Eklund sanft. »Meines.«
    »Ich habe sie gesucht«, murmelte Raimon so leise, dass Eklund ihn kaum verstand. »Ich habe sie überall gesucht, aber ich finde sie nicht.«
    Er schloss die Augen und rührte sich nicht mehr. Eine schreckliche Sekunde lang befürchtete Eklund, dass Raimon gestorben war, aufgrund der Anstrengungen, oder weil ihn der Divorator halb verdaut hatte. Für eine entsetzliche Sekunde glaubte er, vor der Weltseele versagt zu haben und mit seiner Mission gescheitert zu sein, die von ihm verlangte, dieses Geschöpf, das gegen seinen Willen tötete, zu schützen.
    Doch dann stellte er fest, dass Raimon schlief. Er atmete jetzt ruhiger, und Eklund beobachtete verwundert, wie die paddelartigen Erweiterungen ihre Struktur veränderten, wieder zu den Armen eines Jungen wurden. Und die pulsierenden Stränge verwandelten sich in Beine mit glatter Haut, ohne einen einzigen Kratzer. Raimon war wieder Raimon, Mensch und doch etwas ganz anderes, und während Eklund noch auf ihn hinabsah, verschob sich die Perspektive…
    Eine öde Welt, ockerfarben, und inmitten ihrer Trostlosigkeit ein Wald aus weißen Spindeltürmen. Eklund ging an ihnen vorbei, mit einer Mühelosigkeit, die ihn verblüffte – eine seltsame neue Kraft erfüllte ihn und gab seinen Schritten Sicherheit. Jeder Turm, den er passierte, begann zu glühen und schickte Licht zum dunklen Himmel empor, zu den düsteren Wolken, die so über das Firmament rasten, als wären sie auf der Flucht vor etwas. Einem langsam anschwellenden runden Bereich wichen sie aus, und wie beim ersten Besuch an diesem Ort leuchteten dort keine Sterne: Augen, die nichts Menschliches hatten, starrten herab.
    Bruder Eklund setzte den Weg fort und kannte das Ziel: das Podest dort, wo die Abstände zwischen den Türmen wuchsen.
    Dort stand Raimon, gekleidet wie vor seiner Verwandlung in das geflügelte Geschöpf, das sie von Chiron aus in den Kontinentalwald gebracht hatte. Er blickte zum Podest empor, zur leeren Sitzbank, und Tränen rannen ihm über die Wangen.
    Eklund erreichte den Jungen und legte ihm voller Anteilnahme die Hand auf die Schulter.
    »Sie ist nicht da«, sagte Raimon so tieftraurig, dass es dem Alten an seiner Seite fast das Herz zerriss. »Ich habe sie überall gesucht, und ich finde sie nicht.«
    »Die Frau ohne Gesicht«, erwiderte Eklund und erinnerte sich.
    »Sie braucht mich, und ich brauche sie. Aber ich finde sie nicht. Und mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
    Eklund blinzelte und blickte wieder auf den nackten Jungen hinab, der auf der Veranda lag und den Schlaf der Erschöpfung schlief.
    »Die Frau ohne Gesicht«, sagte er langsam. »Du hättest sie fast berührt. Aber Xalons Zorn hat dich daran gehindert, nicht wahr?«
    Er griff nach seinem Gehstock und stand mit dessen Hilfe auf – die Kraft, die er zuvor gespürt hatte, existierte nicht mehr.
    »Ich weiß, wo wir die Frau finden können, die du suchst«, sagte er zum schlafenden Jungen. »Im Mandala.«
     
     

30  Hinter dem Spiegel
     
Kerberos
17. April 421 SN
07:50 Uhr
     
    Visionen von Düsternis …
    Gibt es verschiedene Arten von Schwärze?, fragte sich Konstantin Alexander Stokkart, Autokrat von Kerberos. Gibt es eine Dunkelheit, die dunkler ist als eine andere, eine Finsternis finsterer als die andere? Lebe ich noch, oder ist dies der Tod? Und etwas in ihm fürchtete die Antwort auf diese Frage. Er fiel durch Schwärze, wie sie dunkler nicht sein konnte, und doch glaubte er, verschiedene Schattierungen in ihr zu erkennen, unterschiedliche Arten der Abwesenheit von Licht. Manchmal fühlte er sich von etwas berührt, geistig und körperlich, und in solchen Momenten dachte er voller Schrecken daran, in einem Limbus zu hängen und für immer gefangen zu sein in dieser Nichtwelt.
    Dann hörte er ein Flüstern in der Ferne, ein wortloses Raunen, das Veränderung brachte in die Schwärze. Das Gefühl des Fallens ging zu Ende, und unter ihm, den Augen verborgen, bildete sich etwas Festes, das seinen Füßen Halt bot. Stokkart stand auf einer stabilen Unterlage, umgeben von einer Finsternis, die hier und dort vagem Grau wich. Er atmete, spürte Kühle, war sich auf sehr intensive Weise der Präsenz seines Körpers bewusst und trat einen

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