Kantaki 02 - Der Metamorph
die Zitadelle. Trotz der zurückliegenden Anstrengungen schritt Eklund mit einer Mühelosigkeit aus wie schon seit Jahren nicht mehr. Es lag nicht nur daran, dass sein Rücken frei von Schmerz war. Er sah sein Leben plötzlich als eine Straße, die ihn hierher geführt hatte, an diese Stelle in Raum und Zeit. Er erinnerte sich an den fünfzehn Jahre alten Eklund, der in einer Vision zum ersten Mal die Stimme der Weltseele gehört hatte.
Der Kreis schließt sich, dachte der alte Eklund. Der Kreis des Lebens und der Bedeutung. Gab es etwas Schöneres und Erfüllenderes, als den Sinn in der eigenen Existenz zu erkennen? Und was bereitete mehr Zufriedenheit, als nach einem langen Weg das Ziel zu erreichen?
Etwas berührte ihn, und als Eklund den Blick senkte, sah er, dass Raimon die Hand gehoben hatte. Er griff danach, und so gingen sie Hand in Hand durch die Zitadelle, ein Greis ohne Schmerz und ein Junge voller Kraft, begleitet von Schatten und flüsternden Stimmen. Zwar erklang noch immer Argwohn in ihnen, auch Furcht, aber hier und dort hörte Eklund auch Verwunderung und Staunen. Die Brüder und Schwestern fühlten, dass sich durch Raimons Anwesenheit etwas im Elysium veränderte.
Sie kamen an einer großen Wohnhöhle vorbei, aus der helles Licht in den halbdunklen Korridor fiel. Eklund blickte durch den Eingang und bemerkte zehn oder mehr Personen, die vor einem langen Tisch standen und in seine Richtung sahen. Niemand von ihnen sprach ein Wort, und die Gesichter zeigten… Verblüffung? Ehrfurcht? Sie alle spürten, dass etwas geschah: Die Kraft geriet in Bewegung, wie die Wellen eines Ozeans, die im Sturm wuchsen.
»Wer bist du gewesen, bevor du zu Raimon geworden bist?«, fragte Eklund, denn er glaubte, dass das Geschöpf an seiner Seite nicht immer der Junge gewesen war, der es zu sein schien.
»Vorher war ich… ein Traum?«, erwiderte Raimon und erweckte den Eindruck, nach einem geeigneten Wort zu suchen. »Eine Möglichkeit? Ich war einer ihrer Gedanken, bis ich Gelegenheit bekam, Gestalt anzunehmen.«
Eklund gab der Versuchung nach, weitere Fragen zu stellen. »Was hat es mit der Frau ohne Gesicht auf sich? Und warum musst du sie wecken? Warum schläft sie?«
Raimon hob den Blick, und in seinen Augen sah Eklund… Abgründe von Raum und Zeit, Dinge ohne Namen, gebrochene, zersplitterte Realität und… Ewigkeit. Er schauderte wie jemand, der in einen besonderen Spiegel geblickt und die eigene Winzigkeit gesehen hatte.
»In gewisser Weise ist sie die Mutter dieser Welt«, sagte Raimon. Er ging jetzt schneller, ließ sich nicht mehr führen, sondern führte selbst. Offenbar wusste er, wo sich das Mandala befand. »Sie schläft, seit sie mit dem Dunklen abstürzte. Er wird aktiv, und wenn sie nicht rechtzeitig erwacht, kann er ungehindert aufbrechen. Deshalb muss ich sie wecken. Und mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Er ist hier.«
»Wen meinst du?«
»Den Mann, der mich mehrmals festgehalten hat. Er weiß es nicht, aber auch er empfängt die Kraft. Und damit kann er mich festhalten. Das darf nicht noch einmal geschehen.«
Eklund erinnerte sich daran, dass Elisabeth einen Mann erwähnt hatte, der Ermittlungen anstellte, einen gewissen Lutor. Meinte Raimon ihn?
Einige Minuten später erreichten sie die Grotte mit dem Mandala. In ihrem Zugang zögerte Eklund, drehte den Kopf und stellte fest, dass ihnen Dutzende von Angehörigen der Aufgeklärten Gemeinschaft gefolgt waren. Die meisten von ihnen kannte er recht gut. Sie wahrten einen großen Abstand, und niemand von ihnen gab einen Ton von sich.
Raimon wandte sich ihnen kurz zu. »Ich werde nie wieder töten«, sagte er.
Er betrat die Grotte, und Eklund folgte ihm. vorbei an den Vorsprüngen und Nischen, in denen hunderte von Kerzen brannten. Sie alle flackerten, selbst jene in den entferntesten Ecken der Höhle, als Raimon und Eklund eine der Treppen hinuntergingen, die an Felssäulen vorbei zum steinigen Rund mit den Andachtssäulen und den drei Lichtkreisen führten. Einige Brüder und Schwestern erwachten aus ihrer tiefen Meditation und traten zu den anderen, die dem ungleichen Paar gefolgt waren.
Neben einer der zwanzig Andachtssäulen blieb Raimon stehen und beobachtete die drei goldgelben Kreise, die in ständiger Bewegung waren, sich manchmal gegenseitig zu durchdringen schienen. Eklund gewann den Eindruck, dass ihr Licht etwas heller wurde – reagierten sie auf die Präsenz des Jungen?
Raimon lächelte und streckte die Hand aus, um das
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