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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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drohte keine Gefahr. Wo auch immer hier war.
    Auf einer kleinen Lichtung blieb er stehen, streckte die Hände dem Sonnenschein entgegen und dachte über die Natur der Wirklichkeit nach. Wenn sich eine falsche Realität nicht von der richtigen unterscheiden ließ – hatte es dann noch Sinn, einen Unterschied erkennen zu wollen? Letztlich kam es darauf an, wie überzeugend die Sinne von der erlebten Wirklichkeit berichteten, und dieser Wald wirkte sehr, sehr authentisch.
    Eklund wandte sich um und folgte dem Verlauf eines Pfades, von dem er wusste, dass er ihn zum Teich zurückbrachte, und zum Haus mit Wänden wie aus Wasser. Gelegentlich knackten kleine Zweige unter seinen Schritten, und einmal hörte er ein Zwitschern weit oben, wie von einem Vogel. Ansonsten blieb es still, und Eklund nahm die Stille in sich auf, fügte sie dem eigenen Frieden hinzu. Der Kreis seines Lebens hatte sich geschlossen, seine Aufgabe war erfüllt, und diese Erkenntnis brachte eine Befriedigung, die jeder einzelnen Sekunde seiner fast hundert Lebensjahre Sinn gab. Es existierten viele Dinge, die er nicht verstand und vielleicht nie verstehen würde, doch daraus erwuchs keine Unruhe – er war nie so vermessen gewesen zu hoffen, irgendwann einmal Antworten auf alle seine Fragen zu finden. Aber er wusste jetzt, welche Bedeutung seinem Leben zukam, und er freute sich darüber, es richtig gelebt zu haben. Er gehörte zu den wenigen Privilegierten, die am Ende ihres Lebenswegs zufrieden zurückschauen konnten, ohne irgendetwas zu bereuen oder zu beklagen, ohne etwas zu vermissen. Alles war da, an seinem richtigen Platz.
    Mit langsamen Schritten ging Eklund über den Weg, durch den stillen Wald, ohne Schmerzen im Rücken, und nach einer Viertelstunde erreichte er eine größere Lichtung mit dem kleinen Wasserfall, der den Teich speiste. Dort stand Raimon am felsigen Ufer und blickte ins Wasser. Eklund näherte sich dem Jungen, dem jungen Mann, der ihm den Rücken zukehrte.
    »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    Raimon drehte sich nicht um. Er war gewachsen, wirkte nicht mehr wie ein zwölfjähriger Knabe, sondern wie ein Zwanzigjähriger.
    »Endlich bin ich ganz«, sagte er.
    Eklund trat an seine Seite und blickte in ein Gesicht, das ihm sehr ernst, aber auch irgendwie befreit erschien. Es war nicht mehr Raimons Gesicht, sondern das einer anderen Person.
    Einer Person.
    Doch das Spiegelbild im Wasser zeigte ein Gesicht, das sich immer wieder veränderte, Dutzende von Männern und Frauen präsentierte, unter ihnen auch Lutors Grimasse.
    »Sie sind alle in mir«, sagte Raimon. »Sie sind ich. Wir sind ich, wir alle zusammen. Und gleichzeitig bin nur ich allein ich selbst. Ergibt das einen Sinn?«
    »Ich denke schon. Für dich.«
    »Ihre Erinnerungen sind falsch, genauso falsch wie der Befehl zu töten.«
    »An was erinnerst du dich?«
    Raimon blickte noch immer ins Wasser und überlegte. »Ich erinnere mich an einen Teil der Dinge, an die sich KiTamarani erinnert, und auch ihr Erinnerungsvermögen ist nicht komplett. Sie hat es bei der Reduktion verloren und nur Fragmente davon wiedererlangt. Sie…«
    Er neigte den Kopf zur Seite, schien zu horchen.
    »Da kommt sie.«
    Eklund drehte sich um und blickte zum Haus mit den Wänden aus Wasser, das er schon einmal gesehen hatte, im Elysium, unmittelbar nach dem Tod von Bruder Darius vor zweiundfünfzig Jahren. Kleine Wellen wogten durch die halbtransparente Substanz, die weder Stein noch Metall war und sich anfühlte wie Gelee. In einer Wand des niedrigen Gebäudes hatte sich eine Öffnung gebildet, und KiTamarani trat heraus, gekleidet in ein Gewand so silbergrau wie die Wände.
    »Das Agens ist repariert«, sagte sie.
    Ein Schritt…
    … und Raimon und Eklund standen direkt vor der Konziliantin. Raimon hob die Hand, ebenso wie KiTamarani, und sie berührten sich gegenseitig an den Wangen, eine Geste, die Eklund sehr intim erschien, wie die Umarmung zweier Personen, die sich lange gesucht und nach vielen Jahren wiedergefunden hatten. Er bewegte sich…
    … und stand zwischen den siebzehn weißen Türmen, nicht weit vom Podest entfernt, auf dem die Frau ohne Gesicht auf Raimon gewartet hatte. Aber aus der ockerfarbenen Öde war ein grünes Grasland geworden, und es jagten keine Wolken mehr über den Himmel, wie auf der Flucht vor etwas. Ruhe herrschte hier, ein Frieden vergleichbar mit dem, den Eklund in seinem Inneren fühlte.
    Einer der Türme war verfärbt gewesen, wusste er, getroffen von

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