Kantaki 05 - Feuerstürme (Graken-Trilogie 2)
von ihm empfangen, besonders dann, wenn er an Albträumen litt, und Rupert, kaum des Sprechens mächtig, hatte Worte wiederholt, die er in fremden Gedanken »hörte«. Fast zur gleichen Zeit erschienen die ersten »Schatten«: seltsame Erscheinungen, die aus der Ebene kamen, gelegentlich aber auch in der Stadt aus dem Boden wuchsen, innerhalb des von den hohen Mauern geschützten Bereichs. Zuerst kamen sie, wenn die Nacht am finstersten war, und sie suchten nur die Schlafenden heim, hielten sich von den Wachen fern. Am nächsten Morgen fühlten sich die Betroffenen so schwach wie nach dem nächtlichen Besuch von Vampiren, obwohl ihnen niemand Blut aus dem Leib gesaugt hatte. Stattdessen erging es ihnen wie jenen, die auf den von Graken heimgesuchten Welten langsam dahinsiechten, nach und nach ihrer Träume und Lebenskraft beraubt. Die Ersten von ihnen starben schon nach wenigen Wochen.
Dominique blieb vor dem Seiteneingang der Kathedrale stehen, vom Wind umheult, den weinenden Knaben an ihrer Seite. Er klammerte sich an ihr fest, sah immer wieder zu ihr auf und beteuerte seine Unschuld.
»Bitte geh nicht weg«, brachte er schließlich hervor. »Ich bin so allein. Bitte geh nicht weg.«
»Nein«, beruhigte ihn Dominique. »Hab keine Angst. Ich bleibe bei dir.«
Der sterbenskranke Dalpatio selbst war es, der die Verbindung sah und den Schuldigen identifizierte, das Fleisch gewordene Böse. Eines Nachts beobachtete er, wie einer der Schatten neben dem Kind aus dem Boden wuchs, neben dem Bett seines Sohns, wie er sich über den Jungen beugte und fortglitt, ohne ihn berührt, ohne von seiner Seele gefressen zu haben.
Das ließ nur einen Schluss zu.
Noch in der gleichen Nacht wurde Rupert ins Bußezimmer der Kathedrale gebracht, und die »Geläuterten« erhielten den Auftrag, das Böse aus Körper und Geist des Kindes zu vertreiben.
Dominique öffnete die Tür der Kathedrale, zog sie mühevoll auf, denn der Wind versuchte, sie wieder zuzudrücken. Durch den schmalen Spalt schlüpfte sie und zog den Jungen mit sich. Als sich das kleine Tor wieder schloss, wurde aus dem Heulen des Winds ein dumpfes Fauchen, nicht laut genug, um die Stimmen der Betenden zu übertönen. Dutzende von Einwohnern der Stadt saßen auf den Sitzbänken vor dem schwarzen Block des Altarsteins und beteten im Licht von Kerzen, deren Flammen gelegentlich flackerten und huschende Schemen über die Mauern schickten. Dominique ging langsam an ihnen vorbei, sah in ausgezehrte, von Entbehrungen und Furcht gezeichnete Gesichter. Mit den großen Bildern, die hinter dem Altarstein an der Wand hingen, wusste sie nichts anzufangen. Sie zeigten Kleriker, die meisten von ihnen überaus ernst, fast düster.
Der Junge an Dominiques Seite weinte jetzt nur noch und sprach nicht mehr. Mit einer Hand hielt er sich an ihrer Jacke fest, und mit der anderen wischte er sich Tränen aus den Augen.
Rechts neben dem Altarstein führte ein Gang nach unten ins Bußezimmer. Der Knabe begann zu zittern, als Dominique ihre Schritte dorthin lenkte.
Erneut erinnerte sie sich an Dinge, die nicht zu ihrem eigenen Leben gehörten. Als damals die Buße des Jungen begonnen hatte, als die Geläuterten versuchten, ihn vom angeblichen Fluch zu befreien, der allen Inspirierten Unglück brachte, als sie Schmerz als ein Mittel der Katharsis einsetzten … Offenbar funktionierte es. Weniger Schatten kamen. Der Seelenfraß forderte weniger Opfer. Doch der Wind schien mit jedem verstreichenden Tag stärker zu werden, und die Tage wurden immer kürzer und die Nächte länger und kälter. Das Böse, so erklärte Dalpatio auf dem Sterbebett, war nicht besiegt. Es ruhte nur und wartete auf eine neue Gelegenheit, sich auszubreiten und reinen Seelen Fäulnis zu bringen. Schutz bot allein die andauernde Qual des Diabolus, so flüsterte der greise Ephorus mit seinem letzten Atem.
Dominique ging langsam durch den nach unten führenden Korridor, die eine Hand auf der Schulter des Jungen. Sie fragte sich, ob Ruperts Vater verrückt gewesen war. Den eigenen Sohn einem solchen Schicksal auszuliefern … Oder hatte Dalpatio wirklich geglaubt, dass Rupert die Verkörperung des Bösen war, Grund für das Unglück der Inspirierten? Und die Schatten, die erst nur des Nachts gekommen waren, und später, Jahre nach Dalpatios Tod, auch am Tag … Waren es Geschöpfe von Sarma, parasitäre Geistwesen, die nach mentaler Nahrung suchten, in dieser Hinsicht mit den Graken vergleichbar? Dominique fühlte die
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