Kantaki 06 - Feuerträume (Graken-Trilogie 3)
Geschlechtsteile fehlten; Erasmus war ein Neutrum. Es handelte sich nicht um ein Projektionsfeld, wie Tamara wusste: Sie hatte ihn berührt und dabei feste Substanz gefühlt. Eine quasireale Projektion ließ sich nicht ausschließen, aber sie hielt es für wahrscheinlicher, dass er ebenso aus adaptiven Partikeln bestand wie der Transporter, der sie jetzt zum Innenbereich des Sonnensystems brachte. Zweifellos konnte er sich jede beliebige Gestalt geben und auch mit dem Schiff verschmelzen, wenn er wollte. Doch aus irgendeinem Grund schienen die Zäiden diese besondere Erscheinungsform vorzuziehen, zumindest bei der Begegnung mit Besuchern. Sie fanden Gefallen daran, sich als Individuen zu präsentieren.
»In gewisser Weise?«, wiederholte Tamara langsam. Zacharias begnügte sich mit der Rolle des geduldigen Zuhörers, und Hokonna blieb ebenfalls stumm, den Blick noch immer auf Erasmus gerichtet. Tamara fragte sich, was ihm durch den Kopf ging, versuchte aber nicht, sich mit Delm zu verbinden. Ihr anfänglicher Versuch, Erasmus zu sondieren, hatten ihr dumpfe Kopfschmerzen eingebracht – in dem Transporter gab es etwas, das sie daran hinderte, vom Tal-Telas Gebrauch zu machen.
»Ich bin ein Metonym«, sagte Erasmus, und für ein oder zwei Sekunden gewann Tamara den Eindruck, dass er dem Klang der eigenen Worte lauschte. »Ich bin ich, und ich bin wir.«
»Rhetorik«, kommentierte Tamara und hielt nach einer Reaktion Ausschau.
Erasmus wölbte die angedeuteten Brauen. »Glauben Sie? Manchmal genügt gewöhnliche Sprache nicht, um komplexe Dinge zum Ausdruck zu bringen.« Er hob die rechte Hand und drehte sie so, dass der Zeigefinger auf seine Brust wies. »Dies bin ich, und ›ich‹ bedeutet tatsächlich Individualität. Aber ich stehe auch mit allen anderen Zäiden in Verbindung. Wie sie bin ich nicht mehr an den Ort meiner Entstehung gebunden.«
»Damit meinen Sie vermutlich die Prozessorkerne des Megatrons, dessen Künstliche Intelligenz Persönlichkeitsrechte bekam.« Tamara war noch immer auf der Suche nach einer Reaktion und gab ihren Worten einen leisen Unterton von Spott.
»Sie halten maschinelles Leben noch immer für falsch«, sagte Erasmus mit unerschütterlicher Ruhe. »Und doch kommen Sie mit der Absicht, uns um Hilfe zu bitten.«
»Wenn Sie uns helfen, helfen Sie sich selbst«, sagte Tamara. »Oder glauben Sie, die Graken stellen keine Gefahr für Sie dar?«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Ehrenwerte. Die Graken stellen tatsächlich keine unmittelbare Gefahr für uns dar, denn wir haben kein Amarisk .«
»Sie träumen nicht. Ihnen fehlt die Kraft des Lebens, von der sich die Graken ernähren. Sie haben keine Seele.«
»Tamara …«, sagte Zacharias mahnend.
»Wir sind uns unserer Existenz bewusst. Wir nehmen Einfluss auf unsere Umwelt, wir interagieren mit Ihnen. Wir denken und fühlen. Das entspricht der Definition von Leben .«
»Definitionen bestehen aus Worten, die andere Worte erklären. Semantik.«
»Worte sind Ihr Mittel, um Dinge und Konzepte zu beschreiben, Ehrenwerte. Ich habe schon betont, dass sie in vielen Fällen unzulänglich sind. Es fehlt ihnen an Bandbreite, um alle für das exakte Verstehen von Dingen und Konzepten benötigten Informationen zu übermitteln. Anders ausgedrückt: Gewöhnliche Sprache ist ein Relikt der Vergangenheit. Ihre primitiven Vorfahren entwickelten sie als ein Werkzeug, um sich gegenseitig vor Gefahren zu warnen und mitzuteilen, wo es Nahrung gibt.« Erasmus pfiff. »Haben Sie das gehört?«
»Natürlich.«
»Und haben Sie es verstanden?«
»Es war ein Pfiff«, sagte Tamara.
»Es war die Beschreibung der Antriebstechnik, die unseren Schiffen überlichtschnelle Flüge ohne Transferschneisen erlaubt. In Ihre Sprache übersetzt wären etwa hundert Millionen Worte dafür erforderlich.«
Tamara lauschte dem mentalen Echo des Pfiffs und wusste ihn in ihrem mnemischen Gewebe gespeichert. Vielleicht waren die Spezialistinnen auf Millennia in der Lage, ihn zu entschlüsseln.
Sie spürte etwas wie ein leichtes Jucken an der Innenseite des Schädels, und das Bild vor ihren Augen schien kurz zu verschwimmen – eine Distortionswelle, die sich im Innern des Transporters bemerkbar machte. Jenseits des Fensters erschien ein Planet, in dessen Umlaufbahn mehrere kleine Sonnen leuchteten, so hell, dass Tamara den Blick nicht direkt auf sie richten konnte.
»Das ist Tymion«, sagte Erasmus.
»Ein von Sonnen umkreister Planet … Wir haben gerade einen
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