Kantaki 06 - Feuerträume (Graken-Trilogie 3)
Häusern.
»Fertig«, brachte Tarweder hervor. Er versuchte, auf den Brunnenrand zu klettern, schaffte es aber nicht aus eigener Kraft. Dominique half ihm hinauf, und er ließ sich sofort in die Dunkelheit fallen. Sie sprang ebenfalls, im gleichen Augenblick, als der Kampfflieger erneut feuerte – und diesmal war es kein Warnschuss.
Der Krieg: XVIII
14. Mai 1217 ÄdeF
Es war ein stiller Ort, voller Farbe und doch grau, jedenfalls für Nektar. Es war ein Ort voller Erinnerungen, und er wählte jene, die am wenigsten Schmerz bereiteten. Die anderen hielt er tief in seinem Innern unter Verschluss.
Der Friedhof gehörte zu einem ausgedehnten Park, der sich im Westen von Kalahos Hauptstadt Hiratara über mehrere Hektar erstreckte. Er war uralt: Die ersten Toten hatte man hier vor mehr als sechstausend Jahren bestattet, ausnahmslos Menschen – die Quinqu verbrannten ihre Toten. Viele neue Gräber gab es nicht, denn nur wenige Menschen entschieden, ihre sterblichen Überreste dem Boden anzuvertrauen. Die meisten wählten in ihrem Testament den Desintegrator oder Recycler, weil sie die Vorstellung von einem langsam verwesenden Körper nicht ertrugen. Doch Melange Hannibal Talasar hatte in ihrem letzten Willen ausdrücklich diese Art der Bestattung gewählt. Wie jedes Jahr an ihrem Todestag stand Nektar vor dem Grab, betrachtete das eine lächelnde Mel zeigende quasireale Bild und fragte sich, warum er gekommen war.
»Wir sind die Summe unserer Erinnerungen und Erfahrungen«, sagte Serena an seiner Seite. »Wenn wir versuchen, Dinge zu verdrängen und zu vergessen, so verringern wir das, was wir sind.«
»Verlangen Sie deshalb von mir, jedes Jahr am vierzehnten Mai hierherzukommen?«, fragte Nektar, und es klang etwas schärfer als beabsichtigt.
»Ich verlange es nicht, Nektar«, erwiderte die Medikerin. »Ich rate es Ihnen.«
Serena war inzwischen zu einer Vertrauten geworden, und Nektar bedauerte seine Worte. Aber er brachte es nicht fertig, sich zu entschuldigen. Etwas in ihm fürchtete, Schwäche zu zeigen, denn der Schmerz lag immer auf der Lauer.
Serena musterte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Möchten Sie weniger sein, als Sie sind, Nektar?«
»Ich bin, wer ich bin.«
»Sie sind jetzt dreiundsiebzig Jahre alt und damit ein reifer Mann. Trotzdem sind Sie manchmal verbockt wie ein störrisches Kind.« Serena deutete auf das Bild. »Mel gehört zu Ihrer Vergangenheit. Verleugnen Sie sie nicht. In Ihrem Leben als Markant fürchten Sie keine Konfrontationen, aber in Ihrem Innern gibt es einen Nektar auf der Flucht. Denken Sie darüber nach.« Sie drehte sich um und ging fort.
Nektar wollte sie zurückhalten, weil er sich plötzlich davor fürchtete, an diesem Ort allein zu sein, aber die Furcht erschien ihm derart absurd, dass er kein Wort hervorbrachte. Er sah Serena nach, als sie über den Weg ging und kurze Zeit später hinter einer Baumgruppe verschwand.
Stille herrschte, schien sich zu verdichten und ihm den Atem zu nehmen, als er auf Mels Grab blickte. Als wollte er sich selbst quälen, stellte er sich vor, wie sie unter dem Grabstein lag, nur noch ein Haufen Knochen, und gleichzeitig sah er ihr Lächeln, hörte ihr Lachen und fühlte ihre Berührung. Er schwankte, trat zur nahen Bank und nahm dort Platz, heimgesucht von einem plötzlichen Gefühl der Leere, das gut zu diesem leeren Ort passte.
Eine Zeit lang saß er so da, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Hände vorm Gesicht, und irgendwann wurde er sich der Stimme des Windes in den Baumwipfeln bewusst. Nein, dies war kein leerer Ort, und er war auch nicht völlig still oder leblos. Die Gräber um ihn herum, die ewigen Flammen an einigen von ihnen, die Inschriften, die bunten Blumen, von Lebenden gebracht – es waren Botschaften für das Diesseits, und einige von ihnen lauteten: Seht nur, wir haben gelebt. Vergesst uns nicht.
Vergesst uns nicht …
Nektar begriff plötzlich, warum Serena ihn immer wieder an den vierzehnten Mai erinnerte und weshalb sie mit freundschaftlichem Nachdruck darauf bestand, dass er hierherkam. Sie wollte ihm damit die Frage stellen, ob er jemals gelebt hatte.
Vielleicht nicht in ihrem Sinne, dachte er, als er sich zurücklehnte und den Kopf ein wenig hob, damit ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Es gab nicht nur eine Art von Leben, und seins war eins der besonderen Art; an dieser Überzeugung hielt er fest. So intelligent und einsichtsvoll Serena auch sein mochte: Wie alle
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