Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
erwärmen, weil er mir als besonders einleuchtend und erfolgversprechend erscheint. Beim Gesundheitssystem geht es einem wie manchmal beim Zusammenbau eines Ikea-Regals: Zieht man an der einen Seite eine Schraube an, passt auf der anderen Seite die Schraube nicht mehr ins Loch. Diese Undurchsichtigkeit hat allerdings System, und genau darauf möchte ich hinweisen, weil es typisch ist für politisches Handeln. Eindeutig liegt im Gesundheitsbereich ein sogenanntes Marktversagen vor. Es gibt keinen Markt, auf dem Angebot und Nachfrage für einen Ausgleich sorgen – weil es den Konsumenten (also den Patienten) unmöglich ist, zu entscheiden, welches Produkt sie kaufen wollen. Als Patientin vertraue ich dem Arzt. Dass der Arzt möglicherweise ökonomische Anreize hat, bestimmte Untersuchungen vorzunehmen, will ich lieber gar nicht wissen. Sicherheitshalber gehe ich vielleicht noch zu zwei weiteren Ärzten (und verursache damit entsprechende Kosten). Der Arzt wiederum muss der Pharma-Industrie vertrauen; er hat vielleicht gewisse Erfahrungswerte, dass diese oder jene Pille bei seinen Patienten besser wirkt, aber letztlich greift er auch nur ins Regal, nachdem er seine Diagnose gestellt hat. Und im Regal stehen die Medikamente, die ihm die Vertreter der Pharma-Industrie empfohlen haben. Und die Pharma-Lobby ist sehr gut darin, Empfehlungen auszusprechen. Die Ausgaben der Konzerne für Marketing sind immens. Dazwischen geschaltet sind dann auch noch die Apotheker, die eine eigene Gruppe im Gesamtsystem bilden. Der Patient ist der Letzte in der Kette, der irgendein eigenständiges Urteil fällen könnte.
Schaut man sich internationale Vergleiche an, kann man zu irritierenden Beobachtungen kommen. Warum sind die gleichen Medikamente im Ausland billiger als in Deutschland? Und warum haben die Franzosen ein geringeres Cholesterinproblem als die Deutschen, die Unmengen cholesterinsenkender Medikamente schlucken, cholesterinarme Margarine auf ihr Vollwertbrot streichen usw.? Der Franzose an und für sich schluckt weniger Cholesterinsenker, isst viel ungesundes Weißmehlbrot, schmiert fetten Käse darauf und trinkt dazu auch noch jede Menge Alkohol. Zur Strafe müssten die Franzosen häufiger an den einschlägigen cholesterinbedingten Herzerkrankungen sterben als die Deutschen. Tun sie aber nicht. Im Gegenteil.
Wie erklärt man das? Keine Ahnung! Es könnte am Rotwein liegen, heißt es, aber eine Empfehlung ist das natürlich nicht. Unabhängig davon fällt auf, dass der Cholesterin-Grenzwert in Deutschland in den letzten Jahrzehnten deutlich gesenkt wurde. Prompt gibt es viel mehr Patienten, die Medikamente nehmen müssen. Das nutzt ihnen allen hoffentlich auch. In jedem Fall nutzt es den Herstellern. Beurteilen kann man das als Patient nicht. Beurteilen kann man auch nicht die Preise, die man für ärztliche Behandlungen zahlt. Als Kassenpatient merkt man es eh nicht, mit Rezept in die Apotheke und gut. Als Privatpatient staunt man zwar manchmal – aber da das Geld ja erstattet wird, fragt man auch nicht groß nach. Ein normaler Markt, in dem der Verbraucher Preise und Produkte vergleicht, ist das offensichtlich nicht. Das Gesundheitssystem, das den sozialpolitischen Anspruch hat, allen Bürgern eine gleich gute medizinische Versorgung zukommen zu lassen, ist also massiv gelenkt. Vom Staat, von den Versicherungen, von Ärzten und von der Pharma-Industrie.
Minister müssen entscheiden, welche Medikamente sie auf die »Positivlisten« setzen, die von den Krankenkassen erstattet werden. Man ahnt, wie massiv auf solche Entscheidungen Einfluss genommen wird. Das Endergebnis ist, dass die Versicherungsbeiträge ständig steigen. Dem entkommt man auch nicht, wenn man sich privat versichert. Anfangs wird mit billigen Tarifen geworben, aber nach ein paar Jahren kommt das dicke Ende. Eine rein marktwirtschaftliche Lösung (jeder bekommt nur eine Minimalversorgung, und alles, was darüber hinausgeht, muss man selbst entscheiden und bezahlen) wäre insofern auch keine tolle Lösung. Dann wären wir nämlich sehr schnell wieder in einem System, in dem man das Einkommen der Menschen an ihren Zähnen erkennen kann. Wer wenig Geld hat, macht dann besser nicht den Mund auf.
Wie viel Risiko muten wir uns zu?
Grundsätzlich ist es ein schmaler Grat, Ungerechtigkeit ausgleichen zu wollen, Ungleichheit aber zuzulassen. Wo zieht man die Grenze? Wie viel Risiko muten wir dem Einzelnen zu? Und was bringen einzelne politische Maßnahmen? Denn
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