Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
anderen Blatt. Viele brauchen zusätzlich staatliche Hilfe, sind aber statistisch keine Arbeitslosen mehr. Für eine Gesellschaft mit Anspruch auf soziale Gerechtigkeit und dem Glauben an das Leistungsprinzip ist das eine riskante Entwicklung: Wenn Menschen richtig viel arbeiten und trotzdem mit dem Geld vorne und hinten nicht auskommen – ist das gerecht? Was bleibt dann noch von dem marktwirtschaftlichen Versprechen »Wer sich anstrengt, wird belohnt«?
Die Arbeitgeber hingegen beklagen, dass sie nach wie vor nicht genug Möglichkeiten haben, Mitarbeiter schnell einzustellen, wenn viel zu tun ist, und leicht zu kündigen, wenn weniger Aufträge vorliegen. Wäre der Kündigungsschutz nicht so streng, würden sie mehr Leute einstellen, weil sie dann nicht fürchten müssten, die Mitarbeiter nicht mehr loszuwerden, wenn die Geschäfte später wieder schlechter laufen. So aber lassen sie lieber die vorhandenen Arbeitnehmer Überstunden machen. Also müsste es ihrer Meinung nach noch mehr Arbeitsmarktreform geben. Stattdessen behelfen sie sich mit Leiharbeitsfirmen und lagern das Problem damit aus. Eine immer größere Zahl von Arbeitnehmern, auch gut ausgebildeten, führen ein Nomadenleben als Zeitarbeiter. Ohne sichere Lebensplanung, ohne Bindung an eine Firma und Gewerkschaft. Hinzu kommt, dass es immer mehr Minijobs gibt, die sozialversicherungsfrei sind. Das heißt, man bekommt das ganze Gehalt ausgezahlt und muss davon keine Rentenbeiträge abführen. Dann gibt’s später aber auch keine Rente – in zwanzig Jahren werden also vermutlich zahllose Minijobber Sozialhilfe oder Wohngeld benötigen. Die Putzfrau, die fleißig jede Woche zig Wohnungen reinigt und damit vielleicht sogar mehr verdient als eine gut ausgebildete Erzieherin, die den Nachwuchs dieser Wohnungseigentümer aufs Leben vorbereitet, bekommt ein Riesenproblem, wenn sie Mitte sechzig ist und nicht mehr die Kraft hat, acht Stunden am Tag den Staubsauger zu schwingen. Was dann?
Berufsziel: »Hartzvier«
Besonders schwer haben es Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr keinen Job haben. Je länger man arbeitslos ist, desto schwieriger wird es, wieder Fuß zu fassen. Wer zehn Jahre nicht mehr gearbeitet hat, den will kaum ein Chef mehr haben, weil er nicht zu Unrecht vermutet, dass der Bewerber nicht mehr weiß, wie das ist, morgens aus dem Haus zur Arbeit zu gehen, und weil man vieles verlernt beziehungsweise den Anschluss an aktuelle Entwicklungen verpasst hat. Gerade diese Menschen sind mehrheitlich keineswegs glücklich über ihre Situation, im Gegenteil. Umfragen und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Die meisten Bürger möchten gern Arbeit haben, einem Beruf nachgehen, Verantwortung übernehmen und nicht nur zu Hause herumsitzen. Ja, es gibt natürlich Jugendliche, die als Berufsziel »Hartzvier« angeben, weil sie es von zu Hause nicht anders kennen. Und es gibt natürlich auch Missbrauch bei den Sozialleistungen. Paare tun so, als würden sie nicht zusammenleben; höhere Töchter finden es ganz normal, Sozialleistungen abzurufen, obwohl ihre Eltern sie unterstützen könnten; aber was geht, geht halt, und man nimmt es mit. Der Mensch an und für sich neigt nicht dazu, auf Geschenke zu verzichten, sondern verhält sich häufig entsprechend der Anreize, die ihm geboten werden. Das ist normal. Zu glauben, man könnte Geld anbieten und nur diejenigen würden zugreifen, die es tatsächlich furchtbar dringend brauchen, weil sie überhaupt keine andere Chance hätten, sich zu versorgen, ist naiv. Also kommt es im Sozialstaatssystem vielleicht doch manchmal darauf an, Bedürftigkeiten kritisch zu prüfen. Mit entsprechendem Aufwand. Missbrauch von Sozialleistungen gibt es, keine Frage, und vieles bleibt unentdeckt. Aber die Bundesagentur für Arbeit hat errechnet, dass die Zahl der Betrugsfälle bei Hartz IV insgesamt nicht so hoch ist, wie manche meinen, die über die vielen »Sozialschmarotzer« schimpfen. Dazu zwei Zahlen: Beim Arbeitslosengeld II haben die Jobcenter im Jahre 2011 rund 60 Millionen Euro zu viel ausgezahlt, also Geld, das den Empfängern eigentlich nicht zustand. Das klingt nach viel. Aber: Insgesamt verwalteten die Jobcenter eine Summe von 12,3 Milliarden! Experten schätzen, dass die Missbrauchsquote bei Sozialleistungen insgesamt zwischen 3 und 5 Prozent liegt. Dass Deutschland ein einziges Abzockerparadies sei, kann man also nicht behaupten. Umgekehrt ist es aber auch nicht so, als lebten wir in einem völlig
Weitere Kostenlose Bücher