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Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)

Titel: Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marietta Slomka
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ein völlig anderes Leben am unteren Ende der Einkommensskala katapultiert. Aus konservativer Sicht kann man den gesellschaftlichen Wandel, der dahintersteht, beklagen. Früher wurden mehr Ehen »durchgehalten«, auch wenn sie nicht mehr glücklich waren, der Familienzusammenhalt war stärker, die Mobilität geringer, Großeltern damit häufiger in der Nähe usw. Aber es ist jetzt nun mal so, wie es ist. Wer die Gebärfreudigkeit erhöhen will, um es mal in der Ökonomensprache zu sagen, muss sich diesen Realitäten stellen. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern für die Gesellschaft insgesamt.
    Mitnahme-Effekte und Punktgewinne
    Auch mit dem Elterngeld ist das so eine Sache. Seit 2007 können Mütter und Väter nach der Geburt bis zu 14 Monate zu Hause bleiben und erhalten, abhängig vom vorher erzielten Nettoeinkommen, monatlich bis zu 1800 Euro Lohnersatz vom Staat. Das ist mal eine Maßnahme! Kostet aber natürlich auch eine Menge. Die Milliarden ließen sich alternativ in den Ausbau von Kita-Plätzen und Ganztagsschulen stecken. Da das Elterngeld an Eltern gezahlt wird, die damit machen können, was sie wollen, fragt sich, wie groß die »Mitnahmeeffekte« sind. Heißt: Ich hätte das Kind auch so bekommen, aber nehme natürlich gerne noch das Geld vom Staat dazu. Berechnen lässt sich nicht, wie viele Kinder tatsächlich vor allem dank der Aussicht auf Elterngeld geboren werden. Ein deutlicher Anstieg der Geburtenstatistik ist bisher jedenfalls nicht zu verzeichnen. Und das Hauptproblem, nämlich Beruf und Familie während der gesamten Erziehungszeit von Kindern zu vereinbaren und die sehr berechtigte Angst vieler Frauen vorm Karriereknick, wird auch nicht gelöst, sondern nur zeitlich verschoben. Insofern: viel Geld, aber nicht viel mehr Kinder. Lohnt sich das Ganze also? In zweierlei Hinsicht hat es sich gelohnt: Erstens, dass viele Väter den Anreiz hatten, zu Hause zu bleiben, wenigstens zwei Monate, um finanziell die volle Elternzeit ausschöpfen zu können (nur dann gibt es ja 14 Monate Geld; wenn allein die Frau zu Hause bleibt, reduziert sich der Anspruch auf 12 Monate). Dass auch Väter beruflich kürzer treten, um sich um ihren Nachwuchs zu kümmern, ist inzwischen gesellschaftlich anerkannt, ja sogar erwünscht. Dazu hat das Elterngeld sicher beigetragen. Es ist noch gar nicht lange her, da wurden Väter, die der Kinder wegen eine Auszeit nahmen, angeguckt, als hätten sie nicht alle Tassen im Schrank. Ich erinnere mich, dass ein Bekannter von mir in den späten neunziger Jahren eine berufliche Pause einlegte, weil seine schwangere Freundin sinnvollerweise ihre Referendarzeit zu Ende machen wollte. Er bat seinen Arbeitgeber um ein Jahr Auszeit. Sein Chef (in einem großen Medienbetrieb wohlgemerkt) war fassungslos: »Ihnen ist ja wohl klar, dass dies das Ende Ihrer bislang steilen Karriere bedeutet!« So deutlich würde sich ein Personalchef dies heute nicht mehr zu sagen trauen. Das wäre politisch sehr unkorrekt. Engagierte Väter hingegen sind politisch erwünscht.
    Der zweite große Vorteil des Elterngeldes ergab sich für die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen. Ihr brachte der Einsatz für diese Maßnahme einen echten Punktgewinn. Die Einführung des Elterngeldes ist eng mit ihr persönlich verbunden, das hat ihr viel Profil gegeben. Hätte sie das Geld den Kommunen »geschenkt«, damit vor Ort mehr Kita-Plätze entstehen, hätte ihr das hingegen keiner groß gedankt; die Bevölkerung hätte das jedenfalls nicht mit ihr in Verbindung gebracht. Eine neue und intensiv diskutierte familienpolitische Maßnahme hingegen erregt viel Aufsehen. Auch das ist Politik …
    Letztlich sind es sehr viele Faktoren, die die Geburtenrate eines Landes beeinflussen. In besonders armen Ländern ist sie besonders hoch, weil Eltern die Kinder zur sozialen Absicherung brauchen. Je höher der Grad der Industrialisierung, je höher der Bildungsgrad der Frauen, je mehr Wohlstand, umso weniger Kinder werden geboren. Was im Umkehrschluss natürlich nicht heißt: Die besonders niedrige Geburtenrate in Deutschland ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen sich total sicher fühlen und deshalb keine Kinder mehr brauchen – also eigentlich alles prima im Sozialstaat Deutschland. Ein Stück Wahrheit liegt schon in dieser Interpretation. Aber wenn Frauen heute keine Kinder bekommen oder nur eines, und das erst sehr spät – dann lässt sich das schwerlich mit der Existenz der Pflegeversicherung begründen.

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