Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Süd geht. Aber die Grundfrage ist die gleiche geblieben: Wie kann die Welt gerechter und besser werden? Ein moralischer Ansatz also, der übrigens auch beinhaltet, dass man nicht gleichgültig zusehen mag, wenn in anderen Regionen der Welt blutige Bürgerkriege geführt werden, mit schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Oder wenn Völker von brutalen Diktatoren unterdrückt werden. Der Wunsch zu helfen kann sogar ein Motiv sein, um selbst zur Waffe zu greifen. Damit verbindet sich dann der Begriff der »humanitären Intervention« – man greift aus Mitmenschlichkeit in einen Konflikt ein, notfalls mit Gewalt.
Parallel zu diesem moralischen Blickwinkel gibt es in der Politikwissenschaft eine Betrachtungsweise, die als »systemischer« oder auch »neorealistischer« Ansatz bezeichnet wird. Prägend für diese »realistische« Denkschule waren US -Politologen wie Hans Joachim Morgenthau oder Kenneth Waltz sowie der frühere US -Außenminister Henry Kissinger. Sie beschäftigen sich nicht mit Moral, sondern ausschließlich mit Macht und der Frage, wie sie entsteht. Die Welt betrachten die Anhänger dieser Denkschule als ein System von Nationalstaaten, in dem im Prinzip Anarchie herrscht. Denn es gibt kein Weltgesetz, an das sich alle halten, keine Weltpolizei, kein Weltgericht. Jeder Staat ist sich selbst am nächsten und handelt aus nationalen Interessen heraus: die eigene Sicherheit, der Einfluss auf andere, der Zugang zu Rohstoffen und Handelswegen (zum Beispiel Zugang zum Meer). Die Staaten stehen im Wettbewerb zueinander. Bei der Betrachtung der Weltgeschichte kommt man dabei zu dem Schluss, dass Staaten immer wieder nach einem »Gleichgewicht der Kräfte« streben, nach einer »Balance of Power«. Wird in einer Region ein Staat übermächtig, dann bilden sich Gegengewichte. Macht- und Gegenmacht bestimmen die internationale Politik.
Realpolitik – ein nüchterner Blick auf die Welt
Das ist natürlich eine ausgesprochen kühle Betrachtungsweise. Aber sie ist ungemein faszinierend, weil man damit nicht nur vergangene und aktuelle Entwicklungen sehr gut analysieren kann, sondern sich auch erstaunlich gute Zukunftsprognosen formulieren lassen. An der Entwicklung der letzten zwanzig Jahre lässt sich das gut zeigen. In extremer Form herrschte auch im Kalten Krieg von den 1950er bis in die 1990er Jahre eine Balance of Power: Ost gegen West. Die Sowjetunion und der Ostblock auf der einen Seite, die USA und Westeuropa auf der anderen. Dank Atomwaffen auf beiden Seiten war das ein »Gleichgewicht des Schreckens«.
Aus neorealistischer Sicht war das zwar auch nicht schön, aber doch ziemlich stabil. Dieses Kräftegleichgewicht war so dominant, dass es die gesamte Weltpolitik beherrschte, weit über USA , Sowjetunion und Europa hinaus. Die Welt teilte sich praktisch in zwei Pole – deshalb spricht man in der Wissenschaft von einem »bipolaren System«. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieben nur noch die USA als Supermacht zurück, damit war das internationale System plötzlich »unipolar«. Die Neorealisten haben damals, Anfang der neunziger Jahre, schon klar vorausgesagt: Das wird nicht so bleiben. Es wird sich Gegenmacht bilden. Die USA werden an Macht verlieren. Es werden sich mehrere Machtzentren herauskristallisieren. Das internationale System wird »multipolar« werden. Und genau so ist es gekommen.
Die Theoretiker konnten damals noch nicht wissen, dass es die Terroranschläge vom elften September geben würde und dass die USA in Kriege gegen Irak und in Afghanistan ziehen würden, die sie militärisch und finanziell erschöpft haben. Sie sagten lediglich voraus, dass sich die USA auf Dauer übernehmen würden, dass jede Weltmacht irgendwann einen Niedergang erlebt und dass sich Gegenmacht bilden wird. Damit haben sie recht behalten.
Die USA sind zwar nicht im Niedergang, aber sie haben sich übernommen, sind geschwächt und ziehen sich von ihrer Rolle als Weltpolizei zunehmend zurück. Derweil hat China an Macht und Einfluss enorm zugelegt, sodass manche sogar schon vom »chinesischen Jahrhundert« sprechen. Auch Russland ist wieder erstarkt. Darüber hinaus treten die Staaten Süd- und Mittelamerikas, allen voran Brasilien, selbstbewusster auf die Weltbühne. Auch Europa hat zugelegt, durch die Integration der ehemaligen Ostblock-Staaten sind Territorium und Bevölkerung der Europäischen Union größer geworden, und trotz aktueller Krise belegt die EU mit ihrer Wirtschaftskraft in der Weltrangliste
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