Kapitän Singleton
erworben, daß er, wie es Gewohnheit war, in seine Traktate, seine Familienratgeber und Erbauungsbücher solche Szenen als lehrhafte Beispiele einfügte.
Seine Romane stehen vor allem in der Volkstradition und sprachen deshalb einen neuen und viel größeren Leserkreis an, als die geschulten Gentlemanpoeten für sich in Anspruch nehmen konnten. Wie es im vollständigen Titel seiner Romane heißt, wollte Defoe immer und hauptsächlich auf „Die Lebensgeschichte und das wechselhafte Glück…“ („Roxana“) oder auf „Das Leben und die höchst merkwürdigen Abenteuer…“ („Robinson Crusoe“) hinaus, im Falle des „Kapitän Singleton“ auf „Das Leben, die Abenteuer und die Piratenzüge…“.
Der Werdegang des Helden bildet demnach auch ihr Handlungsgerüst, ohne daß eine komplizierte Fabel konstruiert würde. Obwohl dabei die Form einer Kette von Episoden, verbunden durch überbrückende Zusammenfassungen größerer Zeitabschnitte, ins Auge fällt, tritt gleichrangig neben die relativ eigenständigen Episoden die Aufmerksamkeit für die Entwicklung des Helden, für den Wandel seines Schicksals und das Ziel, an das ihn seine Abenteuer führen. Erst dieses Ziel macht die Episoden mehr oder weniger bemerkenswert und wichtig. Gegenüber älteren Erzählformen, dem höfischen und dem pikaresken Roman, rücken das private Befinden des Einzelmenschen und sein widerspruchsvolles Leben deutlich in den Vordergrund. Die Stelle der abenteuerverbindenden Figuren des Ritters, Höflings oder Pikaros übernimmt der handlungstragende bürgerliche Held, an die Stelle der nach Affektenlehre, Rhetorik und christlich-antiker Moral strukt urierten Episoden werden die Erfahrungsstufen eines offen an das materielle Interesse gebundenen Bürgers gesetzt, der der Welt aktiv gegenübertritt und sie nach seinem Bilde formen will.
Natürlich ist Robinson Crusoe der Prototyp des diesseitig praktischen, zielstrebigen, der Natur das Leben abtrotzenden und Mitmenschen ausbeutenden tüchtigen Matrosen, Kaufmanns und Kolonialisten. Aber auch die Findelkinder, Ausgestoßenen, Diebe, Kurtisanen und Seeräuber wie Oberst Jack, Moll Flanders, Roxana und Bob Singleton streben letztlich nichts anderes als eine solche gesicherte und, wenn es sich einrichten läßt, respektable Existenz an. Sie ringen darum, sich die Grundlagen eines bürgerlichen Daseins zu schaffen, auch wenn sie sich zeitweilig ganz den Abenteuern widmen und darüber dieses Ziel vergessen. Es wäre deshalb falsch, ausschließlich auf die Abenteuer, das liederliche Leben und die von diesen Helden verübten Gemeinheiten zu schauen und ihre Gewissensbisse, Reuebekundungen und Besserungsgelöbnisse nur als angehängte Moral zu betrachten, die das Vergnügen, Schmutz, Sünde und Verbrechen abzubilden, rechtfertigen soll: Dieses Gewissen ist die geistige Form ihrer Bürgerlichkeit.
Außerhalb Europas war Defoe nicht gereist. Für Episoden und Einzelheiten des Romans „Kapitän Singleton“ sind Quellen ermittelt worden, wobei in erster Linie auch jene Bücher als Vorbilder in Betracht kommen, die der Autor nachweislich für den „Robinson Crusoe“ benutzte, der ein Jahr zuvor entstanden war. Dazu gehören die von dem Geistlichen und Diplomaten Richard Hakluyt (1552? bis 1616) und dessen einstigem Helfer, dem Pfarrer Samuel Purchas (1575? – 1626), herausgegebenen Sammelbände von Reiseberichten; ferner „Eine neue Reise um die Welt“ (4 Bände, 1697 – 1709) von dem Kapitän (und Seeräuber) William Dampier, den Defoe persönlich kannte; von Maximilien Mission die fiktive „Reise des Francois Leguat“ (1691) und John Ogilby, „Afrika“ (1670). Hinzu kamen J. Albert de Mandelslo, „See- und Landreisen“ (1662) und A. O. Exquemelin, „Die Freibeuter Amerikas“ (1684/85).
Unser Roman weist aber auch zahlreiche Bezüge zu eigenen Werken Defoes auf. Auch Robinson war in Afrika und tötete dort einen Leoparden, und als er sich in Bengalen aufhielt, wollte er die Route nach England einschlagen, die Singleton tatsächlich nimmt: durch den Persischen Golf, per Karawane über Basra, Bagdad, Aleppo zum Mittelmeer. Mehr Gebrauch machte Defoe von seiner im Dezember 1719 veröffentlichten Schrift „Der König der Piraten, enthaltend einen Bericht der berühmten Unternehmungen Kapitän Averys, des Schattenkönigs von Madagaskar“, die kaum an eine vermutlich von Adrian Van Broeck 1709 veröffentlichte Biographie des sagenhaft reichen Piraten anschloß. Defoe kaschierte die
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