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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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dass es Beweise dafür gibt, dass er wächst.«
    Beweise – welch schicksalhaftes Wort.
    Der Arzt sagte, der Tumor sei zu groß, um ihn zu operieren, aber sie könnten ihn mit einer Chemotherapie behandeln. Oder vielmehr, sie könnten ihn »vielleicht« mit einer Chemotherapiebehandeln. Vor vielen Jahren hatte sie ihrer Freundin Margerie Talbot – die in Nr. 51 gewohnt hatte, dort, wo jetzt die Younts lebten – dabei zugesehen, wie sie wegen einer Krebstherapie ganz fürchterlich leiden musste, nur, um dann doch zu sterben. Damals hatte sich Petunia fest vorgenommen, niemals eine Chemotherapie zu machen. Und jetzt, als sie in der Facharztpraxis im achtzehnten Stockwerk des Krankenhauses saß, stellte sie mit leichtem Erstaunen fest, dass in diesem Fall Theorie und Praxis eins waren: Sie war nach wie vor nicht im Geringsten geneigt, sich behandeln zu lassen, zumal die Aussichten nicht gerade rosig waren. Die Rechnung sah ungefähr folgendermaßen aus: Mit Hilfe einer sechswöchigen Behandlung würde sie sechs Monate länger leben. An die Einzelheiten der Kalkulation konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, aber sie wusste noch, dass sie gedacht hatte, was für eine seltsame Ähnlichkeit sie doch mit diesen Angeboten hatte, mit denen man beim Kauf eines Gerätes dessen Garantiefrist verlängern konnte – 5,99 £ im Monat für eine um drei Jahre verlängerte Garantie. Albert hatte sich jedes Mal fürchterlich darüber aufgeregt.
    »Nein«, sagte Petunia. »Vielen Dank. Aber das möchte ich nicht.«
    »Sie müssen das nicht hier und jetzt entscheiden«, hatte der Arzt gesagt.
    »Ich habe meine Entscheidung getroffen, und sie lautet Nein«, sagte Petunia. Der Arzt hatte daraufhin das erste und einzige Mal ein wenig betroffen gewirkt. Und danach sah sie ihn nie wieder.
    Die Diagnose des Arztes war ein Schock. Aber sie kam auch nicht vollkommen überraschend. Im Februar hatte sich ihr Zustand ganz plötzlich drastisch verschlechtert. Was dabei fast noch am schlimmsten war, war das Gefühl, dass diese Krankheit vollkommen anders war als alle anderen Krankheiten, die sie bisher gehabt hatte. Wenn sie sonst krank gewesen war, hatte es immer einen gewissen Abstand zwischen ihr und ihren Beschwerden gegeben. Sie selbst befand sich auf einer Seite und die Krankheit aufder anderen. Sogar in solchen Momenten, in denen sie schwer krank gewesen war, zum Beispiel wenn sie unter einer heftigen Grippe gelitten und hohes Fieber gehabt hatte, hatte sie immer noch gewusst, dass die Krankheit und sie nicht identisch miteinander waren. Ihr Dasein und das Dasein der Krankheit existierten getrennt voneinander. Aber diesmal lagen die Dinge anders. Dabei waren die Symptome nicht einmal besonders spektakulär. Aber Petunia spürte, dass ihr diese Krankheit sehr nah auf den Leib rückte, sie hatte sich mit ihren Gedanken, Wahrnehmungen und ihrem innersten Sein aufs Engste verwoben. Der schattige Fleck auf ihrem Auge breitete sich aus und wurde dunkler, und schließlich fühlte sie sich fast die ganze Zeit schwach und schwindelig. Es gab Momente, da war sie kaum noch in der Lage, irgendetwas zu tun; sie konnte nicht mehr laufen, und manchmal schaffte sie es nicht einmal mehr, das Bett zu verlassen. Man brachte sie ins Krankenhaus. Dort konnte sie streckenweise fast gar nichts mehr sehen, und für kurze Zeit hatte sie einen unkontrollierbaren Schluckauf, der so schlimm wurde, dass sich die anderen Patienten beschwerten.
    Nach zwei Wochen stabilisierte sich ihr Zustand ein wenig, und sie wurde nach Hause geschickt, damit sie dort in Ruhe sterben konnte. Ihre Tochter Mary verließ ihr Haus in Maldon und zog zu ihr, um sich um sie zu kümmern. Die Alternative wäre gewesen, zu Mary nach Essex zu ziehen und die letzten Wochen bei ihr und ihrer Familie zu verbringen, aber Marys Haus war ihr irgendwie unheimlich (obwohl Petunia natürlich nicht zugab, dass dies der Grund war), sie fand es kalt, steril und abweisend. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Mary verbrachte die meiste Zeit damit, sauber zu machen und Ordnung zu schaffen – das hatte sie schon immer getan –, und diese Angewohnheit war woanders viel schwerer zu ertragen als in ihren eigenen vier Wänden. Nachdem Mary zu ihrer Mutter in das Haus in der Pepys Road gezogen war, hielt sie sich meistens in einem anderen Zimmer auf und kam erst dann zu Petunia, wenn sie gerufen wurde. Und es war Petuniapeinlich, wie oft das geschah. Manchmal schaffte sie es, in der Nacht allein aufs Klo

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