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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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aussah.
    »Ich erkläre Ihnen am besten mal alles«, sagte Roger mit entschlossener Stimme. Er stellte ihr Conrad und Joshua vor, aber Matya schien diese Vorstellung kaum zu benötigen. Im nächsten Moment kniete sie neben den Kindern auf der Erde und fing mit ihrem weichen ungarischen Akzent eine Diskussion darüber an, was wohl die beste Methode sein mochte, um den Gorilla dazu zu bringen, auf dem Rücken des Krokodils stehen zu bleiben. Für Roger war das alles wie ein Moment in einem Actionfilm, wo das Hubschrauber-Rettungsteam zu der Spezialeinheit vorstößt, die sich tief hinter den feindlichen Linien verschanzt hatte, und der Zuschauer endlich das Gefühl bekommt, dass es vielleicht für den Helden, gegen jede Wahrscheinlichkeit, doch noch alles ein gutes Ende nimmt.

ZWEITER TEIL
April 2008

31
    Der Frühling stand vor der Tür. In der Pepys Road Nummer 42 waren die Krokusse bereits wieder verblüht, die Petunia Howe letzten Herbst eingepflanzt hatte, als sie noch gesund gewesen war. Damals hatte sie auch Rittersporn und Stockrosen gesetzt, aber die würden erst im Sommer zum Vorschein kommen. Deswegen war der Garten weit weniger farbenfroh, als ihr das lieb gewesen wäre, und auch der Rasen sah irgendwie ungepflegt aus. Sie bat ihre Tochter nur ungern, das Gras zu mähen, doch außer ihr gab es niemanden, der das hätte tun können. Trotz allem lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Manchmal war es warm genug, um die Fenster auf zu lassen, jedenfalls auf der Rückseite des Hauses, wo es besonders geschützt war. Dann konnte sie diese unverwechselbare weiche, Fruchtbarkeit verheißende Beschaffenheit der Luft spüren, die die neue Jahreszeit mit sich brachte. Petunia hatte dieses Gefühl schon immer geliebt. Ihrer Meinung nach musste man die Welt nicht in Frühlings- und Herbstmenschen unterteilen. Sie liebte beide Jahreszeiten. Aber wenn sie sich partout hätte entscheiden müssen, dann hätte sie sich als Frühlingsmensch bezeichnet. Im Mai oder spätestens im Juni kämen dann die Storchenschnäbel hoch, die Wilden Möhren würden gerade anfangen zu blühen, und die Schwertlilien stünden bereits in voller Blüte. Und der ganze Boden wäre mit Maiglöckchen übersät. In dieser Zeit sprühte der Garten nur so vor Farben und Wachstum, genau wie sie es liebte. Alles schien dann vertraut und lebendig, tausend Dinge passierten gleichzeitig, und überall herrschte ein solch verschwenderischer Überfluss, dass es fast schon an Chaos grenzte. Sie saß oft in ihrem Schlafzimmer auf einem Stuhl am Fenster, schaute in den Garten hinunter und stellte sich vor, wie es später darin aussehen würde. Sie konnte nur schwer akzeptieren, undeigentlich auch noch überhaupt nicht wirklich begreifen, dass sie im Sterben lag und im Hochsommer bereits tot sein würde. Das hatte ihr der Arzt im Krankenhaus gesagt.
    Er hatte es genauso getan, wie er auch alles andere tat, nämlich ungeschickt. So als hätte er sich gerade eben noch daran erinnert, dass er auf keinen Fall schroff sein durfte, es aber dann nicht mehr geschafft, das auch in die Tat umzusetzen. Der Gehirntumor, den er als mögliche Ursache für ihre Beschwerden hatte »ausschließen« wollen, war, wie sich herausstellte, tatsächlich für ihre Symptome verantwortlich. Diese ganze Sache mit dem »Ausschließen« war eigentlich nur eine von den Ärzten gerne gebrauchte Umschreibung gewesen für »Das ist höchstwahrscheinlich genau das, was Sie haben«. Das war ihr mittlerweile klargeworden. Sie habe einen sehr großen Tumor, hatte er ihr mitgeteilt, einen, der für ihr Alter sehr rasch gewachsen sei.
    »Ich habe Krebs«, hatte Petunia gesagt und sich dabei gefühlt, als wäre sie gegen eine Wand geprallt. Die Menschen redeten immer davon, dass sich ein Abgrund unter ihnen auftat oder ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, aber so fühlte sich Petunia in diesem Moment überhaupt nicht. Sie hatte eher das Gefühl, in ein unsichtbares Hindernis gelaufen zu sein. Ein Hindernis, das immer schon da gewesen war, das sie aber nie hatte sehen können und das auch jetzt noch unsichtbar blieb.
    »Streng genommen ist das nicht ganz zutreffend«, sagte der Arzt. Man konnte erkennen, dass er innerlich kurz mit sich gerungen hatte, ob er eine sterbende Frau wegen eines terminologischen Fehlers korrigieren sollte. Aber dann hatte er dem Impuls doch nachgegeben. »Ein Gehirntumor ist keine Krebserkrankung. Aber ja, Sie haben einen Tumor, und ich muss Ihnen leider sagen,

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