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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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zu gehen, manchmal aber auch nicht, und dann musste sie Mary rufen, die direkt im Nebenzimmer schlief. Dieser Raum war einmal Alberts Arbeitszimmer gewesen, und Petunia hatte nach seinem Tod nicht viel darin verändert. Im Grunde genommen war es eigentlich immer noch Alberts Arbeitszimmer. Aber Mary hatte einen sehr tiefen Schlaf, und obwohl Mutter und Tochter beide ihre Türen offen ließen, hörte Mary ihre Mutter oft nicht, wenn sie rief, bis Petunia vom Rufen fast heiser geworden war. Und dann mussten sie es zusammen auch noch irgendwie ins Badezimmer schaffen. Petunia hasste das, und Mary hasste es auch.
    Für die Zeit kurz vor ihrem Tod konnte Petunia dann entweder zu Hause oder im Hospiz Palliativpflege in Anspruch nehmen. Aber so weit war sie noch nicht. Seit ihre Tochter nach Hause gekommen war, schien sich der Prozess ihres Sterbens extrem verlangsamt zu haben.
    Petunia hörte, wie es unten in der Küche klapperte. Mary konnte Unordnung nur schwer ertragen, aber Krach schien ihr überhaupt nichts auszumachen, jedenfalls nicht der Krach, den sie selbst verursachte. Sobald sie etwas in Angriff nahm, knallte und schepperte es, sie stellte das Radio in jedem Zimmer auf höchste Lautstärke, und sogar der Staubsauger klang irgendwie lärmender, wenn Mary ihn benutzte. Gerade war sie damit beschäftigt, für sich und ihre Mutter eine Tasse Tee zu kochen. Petunia wusste das deshalb so genau, weil Mary das jeden Tag um genau elf Uhr tat. Für diese simple Tätigkeit war es ganz offensichtlich notwendig, Schranktüren zuzuknallen, Unterteller zum Scheppern zu bringen, das Tablett auf den Tisch zu krachen und den Wasserkessel auf die Arbeitsfläche zu schmettern. In ungefähr fünf Minuten würde sie also nach oben kommen. Petunia war froh darüber. Zwar hatten sie und Mary einander nicht besonders viel zu sagen, aber die Gewohnheiten ihrer Tochter durchbrachen das tägliche Einerlei und waren daher eine willkommene Abwechslung.
    Der Tumor hatte ihr Gehirn in Mitleidenschaft gezogen, und eine der Folgen davon war, dass sie nicht mehr lesen konnte. Fernsehen gucken wollte sie nicht, und auch nach einer Unterhaltung war ihr nur selten zumute. Wenn sie es dann doch einmal wollte, war Mary oft genug nicht da. Also verbrachte sie den Tag in einem Zustand reinsten Daseins, einem Zustand, der dem Säuglingsalter ähnlicher war als alles andere, was sie seither erlebt hatte. Es gab auch Augenblicke, in denen sie Angst verspürte. Manchmal geriet sie in Panik und wurde bei dem Gedanken, dass sie bald sterben musste, von blankem Entsetzen erfasst. Oder sie wurde, wenn sie über ihren Tod nachdachte, von dem Gefühl eines Verlustes überwältigt; aber dieses Gefühl war auf seltsame Weise unspezifisch. Es hatte nichts mit all den Dingen zu tun, die sie nicht mehr erleben würde, denn so vieles davon war ohnehin längst verblasst. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Geschmacks- und Geruchssinn: Kaffee, Tee, Speck und Blumen schmeckten und rochen nicht mehr wie Kaffee, Tee, Speck und Blumen; oder falls sie es doch noch taten, dann wurden die Sinneseindrücke von ihrem Gehirn nicht mehr richtig erfasst und gingen irgendwo in den synaptischen Verknüpfungen verloren. Sie hatte nicht das Gefühl, etwas Bestimmtes zu verlieren: nicht diesen Tag, dieses Licht, diesen Lufthauch, diesen Frühling. Es war ein allgemeines Gefühl des Verlustes, das zugleich mit Allem und Nichts zusammenhing. Sie verlor einfach nur. Verlor alles. Sie saß in einem Boot, das vom Hafen wegtrieb. Manchmal war das nicht einmal ein unangenehmes Gefühl. Dann nämlich, wenn sie sich bei sich selbst geborgen fühlte. Manchmal spürte sie aber auch, wie sie an ihrer eigenen Traurigkeit erstickte. Die Trauer schnürte ihr die Kehle zu und schnitt ihr den Atem ab. Ganz so, als sei auch sie ein Symptom ihrer tödlichen Krankheit.

32
    Die größte Scheiße wird immer von oben nach unten weitergereicht. Dieses für alle Institutionen geltende Prinzip war der Grund dafür, dass eine dicke Akte mit der Aufschrift »Ermittlungen: W IR W OLLEN W AS I HR H ABT « auf dem Schreibtisch von Kriminalinspektor Mill bei der Metropolitan Police gelandet war. Der Hintergrund war folgender: Ein halbes Dutzend Anwohner der Pepys Road hatte sich als Erstes bei der Stadtverwaltung beschwert und damit nicht das Geringste erreicht – was niemanden überraschte. Daraufhin hatten sie an den für sie zuständigen Abgeordneten im Parlament geschrieben, der wiederum an den

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