Kapital: Roman (German Edition)
schlagen, während Roger sich durch Joshuas Versuch, auf einen Stuhl zu klettern und ihn gleichzeitig umzuschmeißen, hatte ablenken lassen. Aber der Feuerlöscher war nicht losgegangen, und das war schon das zweite gute Omen an diesem Tag. Danach machten sie einen Spaziergang durch den Park, den Roger noch nie so menschenleer gesehen hatte. Als sie auf dem Weg zur hundefreienZone waren, um ein bisschen Fußball zu spielen, ging eine junge Frau mit einem Kinderwagen an ihnen vorbei. Sie gehörte eindeutig zur Mittelschicht, dachte Roger, ohne dass er sich groß gefragt hätte, wie er zu diesem Schluss gekommen war; es hatte mit ihrem Schal zu tun, oder ihrem Kinderwagen, oder ihren Haaren. Die Frau warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Roger fragte sich einen Moment lang, wie er wohl auf sie wirken musste: Papa schiebt einen Buggy mit einem kleinen Jungen vor sich her, der in ein Mäntelchen gepackt ist und einen Fußball umklammert hält, und nebenher trabt ein zweiter kleiner Junge. Die wahrscheinlichste Diagnose war in einem solche Fall wohl: Rücksichtsvoller Vater macht mit seinen Söhnen am Feiertag einen Spaziergang, während Mami sich ausnahmsweise mal so richtig ausschlafen darf. Das kannst du dir abschminken, dachte Roger, und ehe er sich’s versah, hatte er der netten, gar nicht mal so schlecht gebauten Mama aus der Mittelschicht einen bösen Blick zugeworfen.
Auf der baumlosen Grasfläche pfiff ihnen der Wind um die Ohren, und es war kälter, als Roger gedacht hatte. Es waren auch keine anderen Kinder zu sehen, nur ein paar fanatische Jogger. Nach ungefähr zehn Minuten gaben sie auf und machten sich wieder auf den Heimweg.
»Wie wär’s mit einem heißen Kakao?«, fragte Roger, während ihm im selben Moment klar wurde, dass er keine Ahnung hatte, wie man so was zubereitete. Aber wie schwer konnte das schon sein? Und vielleicht würde auf der Dose auch eine Anleitung stehen. Die Kinder fanden jedoch, dass es zu kalt war, um über so eine Frage nachzudenken. Joshua kletterte wieder in seinen Buggy und machte einen halbherzigen Versuch, den Gurt zu schließen, bis Roger ihm half. Conrad machte den Reißverschluss an seiner Jacke zu, setzte sich die Kapuze auf, steckte dann seine Fäuste tief in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch. Dadurch sah er aus wie ein sehr kleiner Straßenräuber.
Während sie durch den Park liefen und sich alle drei so tief wiemöglich in ihre Mäntel verkrochen, um sich warm zu halten, sagte Conrad:
»Hexenhöschen.«
Roger dachte, er müsse sich verhört haben.
»Was?«
Conrad zeigte auf eine Reihe von Bäumen, die sich im schneidenden Dezemberwind hin- und herbogen.
»Hexenhöschen!«
Roger schaute näher hin. In der Baumgruppe hingen drei weiße Mülltüten aus Plastik. Sie wehten und flatterten inmitten der schwarzen Äste wie wildgewordene Derwische. Hexenhöschen. Zum ersten Mal seit Tagen musste er lachen. Später waren sie wieder alle müde und sauer aufeinander – ein typischer zweiter Weihnachtsfeiertag eben. Aber wenigstens war er nicht so schlimm gewesen wie der erste.
Am nächsten Tag traf Hilfe ein. Es war eine willkommene Überraschung, als um Viertel vor elf das ungarische Kindermädchen klingelte, das ihm die Agentur versprochen hatte, nachdem er dort um neun Uhr morgens endlich jemanden erreicht hatte. Sie war ein großes, hübsches, dunkelhaariges Mädchen Mitte zwanzig, das sich gut ausdrücken konnte. Matya. Der Agentur zufolge verfügte sie über einigermaßen gutes Englisch, hatte gute Referenzen und konnte sehr gut mit kleinen Kindern umgehen. Er musste nur einen Blick auf sie werfen und schon wurde es Roger ganz schwindelig vor Erleichterung. Während er sie begrüßte, richtete er sich zu seiner vollen Körpergröße auf, denn das tat er, ohne es zu merken, immer, wenn er sich zu einer Frau hingezogen fühlte.
Als Matya ins Wohnzimmer kam, fiel Roger auf (nachdem ihm auch ihr erstaunlich schöner Hintern in den engen Jeans aufgefallen war, der zum Vorschein kam, als sie ihren Mantel auszog), dass sie sich als Allererstes nach den Kindern umsah. Das war interessant, denn die meisten Menschen, die den Raum betraten, schauten zunächst auf die teure Ausstattung und all den anderen teurenKram. Joshua und Conrad hatten gerade einen ihrer seltenen, nie länger als fünf Minuten dauernden Momente, in denen sie sich gut verstanden. Der Jüngere reichte dem Älteren eine Reihe von Legosteinen, womit sie etwas bauten, das wie ein Zoo
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