Kapital: Roman (German Edition)
wie sie es nannten, »Kampagne permanenter Belästigung« ausgesetzt. Sie hatten einen für Angehörige der Mittelschicht typischen Beschwerdebrief geschrieben und ihn sehr sorgfältig formuliert, um maximalen Druck auf die Behörden auszuüben. Ihren Angaben zufolge hatte die Kampagne mit Postkarten begonnen, auf denen sich Abbildungen ihrer Haustüren befanden, dann waren Videos von der gesamten Straße hinzugekommen, und schließlich folgte noch ein anonymer Blog mit Fotos der Häuser, die über einen längeren Zeitraum hinweg zu den unterschiedlichsten Uhrzeiten aufgenommen worden waren. Und das ganze Material war ohne Ausnahme miteinem Satz überschrieben, der ein Slogan, ein Motto, ein Befehl oder eine Drohung sein sollte: W IR W OLLEN W AS I HR H ABT .
Mill fuhr seinen Computer hoch und öffnete die in der Akte erwähnte Website. Er verbrachte ungefähr eine halbe Stunde damit, sie genauestens zu
durchsuchen, und eine weitere halbe Stunde mit der Durchsicht des Materials, das in den Briefkästen aufgetaucht war. Die Poststempel stammten aus
verschiedensten Stadtteilen Londons, und die Handschrift war bei allen Adressen die gleiche: Blockschrift, mit Tinte geschrieben. Eine andere Beschriftung
gab es nicht. Es gab auch nirgendwo irgendwelche anderen Worte, immer nur dieselben fünf Wörter, immer und immer wieder. Während dieser Beschäftigung fand
Mill ganz allmählich eine Antwort auf seine ursprüngliche Frage: Er begriff nun, warum dieser Auftrag auf seinem Schreibtisch gelandet war. Das Material
hatte etwas sehr Alarmierendes. Es war fast unmöglich zu sagen, was eigentlich der Zweck des Ganzen war, und man bekam ein ziemlich unheimliches Gefühl
dabei. Irgendjemand interessierte sich viel zu sehr für diese Straße, diese Häuser und die Menschen, die darin wohnten. Etwas fühlte sich falsch an. Aber
das musste nicht unbedingt heißen, dass auch ein Verbrechen vorlag. Vielleicht hatte derjenige, der für das alles hier verantwortlich war, genau darüber
nachgedacht – wie er es vermeiden konnte, das Gesetz zu brechen. Mill schrieb auf seinen Notizblock:
Belästigung
Unbefugtes Betreten?
Verletzung der Privatsphäre?
Asoziales Verhalten
Dann steckte er eine Auswahl der Postkarten und DVDs in einen für Beweismaterial vorgesehenen Umschlag und füllte das entsprechendeFormular aus, um die Sachen auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Er war nicht besonders optimistisch, dass dabei etwas herauskommen würde, aber es gehörte zur routinemäßigen Vorgehensweise. Und was das eigentliche Problem anging, nämlich die Frage, was das Ganze eigentlich sollte, lautete Mills vorläufige Schlussfolgerung, dass er keinen blassen Schimmer hatte.
33
»Mary, Mary, quite contrary …« – Mary, Mary, ganz schön widerspenstig. Mary hasste dieses Gedicht, aber es gab während ihres ganzen Lebens immer wieder Momente, in denen sie es einfach nicht aus dem Kopf bekam. Ihr Vater hatte es oft zitiert und sich dabei jedes Mal köstlich amüsiert. Denn für ihn war Widerspruchsgeist ein absolut positiver Wesenszug. Er war ja selbst unendlich widerspenstig gewesen, in einem Grad, der über Unvernunft noch weit hinausgegangen war. Mary fand diese Eigenschaft jedoch keineswegs positiv, und sie fand auch nicht, dass sie selbst widerspenstig war, auch wenn die Worte ihr manchmal durch den Kopf gingen, und zwar fast immer dann, wenn sie sich über irgendetwas ganz fürchterlich ärgerte. Mary, Mary, quite contrary …
Sie stellte die Teekanne auf das Tablett, denn der Tee hatte jetzt vier Minuten gezogen. Dann hob sie das Tablett hoch, setzte es aber sofort wieder ab. Es wäre vielleicht eine bessere Idee, nur eine große Tasse mit hoch zu nehmen: Je weniger es für ihre Mutter zum Umschmeißen oder Verschütten gab, desto besser. Aber gleichzeitig versuchte Mary, die Verschlechterung im Zustand ihrer Mutter zu verleugnen, indem sie so tat, als wäre überhaupt nichts geschehen. Sie machte lauter kleine Tests mit ihr: Da, sieh doch, sie kann immer noch eine Tasse zusammen mit einer Untertasse halten; schau, sie kommt immer noch mit Messer und Gabel klar. Was aber eigentlich gar nicht stimmte. Die motorischen Fähigkeiten ihrer Mutter hatten sich dramatisch verschlechtert, besonders was ihre linke Körperhälfte betraf, und obwohl sie mit der rechten Hand noch eine Gabel halten konnte, ging das mit der linken schon nicht mehr. Mary kochte und servierte ihrer Mutter immer Mahlzeiten, die sie mit einer Hand
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