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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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essen konnte, mit einer Gabel oder einem Löffel, denn sie fand es wichtig, wenigstens denAnschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Aber eigentlich war nichts mehr normal, denn ihre Mutter lag im Sterben, und es gab nicht das Geringste, was sie dagegen tun konnte. Mary versuchte, den äußeren Schein zu wahren, um den Tod ihrer Mutter ein wenig hinauszuzögern. Aber weil das unmöglich war und weil es außerdem einfacher war, ärgerlich zu sein als traurig, war sie die ganze Zeit ein bisschen wütend auf ihre Mutter. Sie war wütend, weil sie bei ihr wohnen musste, sie war wütend über London; über den Zustand, in dem sich das Haus befand; über die Kücheneinrichtung; über den Wasserkessel, der sich nicht von selbst abschaltete, wenn das Wasser kochte, sondern einfach weiterkochte, so dass man ihn die ganze Zeit im Auge behalten musste; über den Verkehrslärm, der es schwierig machte, nachts einzuschlafen; über das andauernde Aufgewecktwerden in den frühen Morgenstunden, damit sie ihrer Mutter aufs Klo helfen konnte; und über die Tatsache, dass ihr Mann Alan ihr immer sagte, sie müsse dort bleiben, solange sie gebraucht werde, als wäre das nicht sowieso selbstverständlich und als gäbe es irgendeine Alternative.
    Mary stapfte mit dem Tablett die Treppe hoch. Ihre Mutter saß in ihrem Lieblingsstuhl am Fenster und schaute wie üblich hinaus in den Garten, und wie üblich sagte sie »Vielen Dank, mein Liebes«, bevor Mary überhaupt durch die Tür gekommen war. Selbst Petunias Blick hatte irgendwie an Kraft verloren, war nicht mehr ganz da; es war nicht etwa so, als schaute sie an einem vorbei, eher war es so, als würde sie bei dem Versuch, ihr Gegenüber anzuschauen, auf halbem Wege aufgeben. Ihr Konzentrationsvermögen reichte für den gesamten Weg nicht mehr aus.
    »Das ist nett, mein Schatz«, sagte Petunia. »Tee. Danke schön.«
    »Ich stell ihn einfach hier neben dich«, sagte Mary. Es fiel ihr auf, dass ihre Mutter sie nur kurz angeschaut und das Gesicht dann gleich wieder abgewandt hatte.
    »Er hat schon lange genug gezogen«, sagte Mary. »Ich schenke dir mal eine Tasse ein.« Sie goss den Tee in die Tasse. »Das Tablett nehme ich gleich wieder mit runter, damit du hier mehr Platz hast«,sagte sie dann. Es war weniger wahrscheinlich, dass ihre Mutter den Tee verschüttete, wenn auf dem Tischchen nicht lauter andere Sachen standen. Darüber hinaus gab ihr das einen Vorwand, den Raum zu verlassen. Sie war weniger als eine Minute bei ihrer Mutter geblieben. Als sie nach unten ging, stellte sie fest, dass in der Zwischenzeit der Briefträger gekommen war. Einer der Briefe schien eine Rechnung zu enthalten, und dann war da schon wieder eine von diesen schrecklichen Postkarten mit einem Foto der Haustür und diesem bedrohlichen Satz. Wie könnt ihr es wagen zu behaupten, dass ihr so etwas wie das hier wollt, dachte Mary.
    Mary mochte Veränderung, Bewegung, Farben, Spazierengehen, Sex (mit ihrem Mann), Ikea, sonntags mit Freunden in einem Pub zu Mittag essen, sie mochte es, wohlhabend zu sein, in einem malerischen Teil Englands zu leben, und sie mochte es, mit einem Mann verheiratet zu sein, der es im Leben zu etwas gebracht hatte (er war der Besitzer einer Reihe von Autowerkstätten). Ihre Mutter hatte sie immer deprimiert. Petunia gehörte zu den Menschen, die sich charakterlich nie veränderten und sich selbst Grenzen setzten, von denen sie wie durch ein Gefängnisgitter eingeschlossen wurden. Sie war nicht depressiv, aber sie verhielt sich so. Sie fand immer neue Gründe dafür, warum sie etwas nicht tun konnte, warum es sich nicht lohnte, zu handeln, sich zu verändern oder aus ihrem Muster auszubrechen. Eltern sind oft eine Enttäuschung für ihre Kinder, und Petunia war eine bittere Enttäuschung für Mary gewesen. Als ihr Vater noch lebte, hatte Mary geglaubt, er sei der Schwierigere von beiden, derjenige, der im Leben ihrer Eltern für all diese Einschränkungen und Begrenzungen verantwortlich war, aber nachdem er gestorben war, wurde ihr klar, dass die Dinge viel komplizierter lagen. Petunia tat nie etwas, das sie nicht tun wollte, und was sie tun wollte, war genau dasselbe wie das, was sie auch am Tag zuvor schon getan hatte. Sie war ein zärtlicher und liebevoller Mensch, aber auch äußerst begrenzt; und für diese Grenzen war sie ganz allein selbst verantwortlich. Mary fand das erniedrigend.
    Die Pointe des Ganzen war, dass sie jetzt auch noch im Sterben lag. Petunias Geschichte war ein

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