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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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zittrigen, unsicheren Stimme »Du siehst aber gut aus, Schatz« zu sagen.
    In Marks Innerem tobte ein Tumult. Das war schon immer so gewesen. Tief in ihm drin herrschte Panik und Leere. Er wusste eigentlich gar nicht genau, wer er überhaupt war. Seine Eltern waren sanfte, schwache Leute, und sein Vater war während der Regierungszeit der Torys, in der Rezession der frühen neunziger Jahre, Bankrott gegangen. Damals war Mark gerade in die Pubertät gekommen. Gleichzeitig hatte seine Mutter ihr zweites Kind geboren, eine Tochter, was für ihn alles noch viel unerträglicher machte. Er verlor das Vertrauen in seine Eltern, genau zur gleichen Zeit, als auch sie selbst das Vertrauen in sich verloren. Er wurde wütend auf sie und war immer mehr davon überzeugt, dass seine Eltern Betrüger waren, kleine armselige Betrüger, die so taten, als wären sie etwas anderes, als sie in Wirklichkeit waren. Denn in Wirklichkeit waren sie nur halb lebendige, nicht authentische Menschen. Er durchschaute sie in einem Alter, in dem er gerade erst damit begonnen hatte, sich zu fragen, wer er selbst eigentlich war, und als Konsequenz daraus wurde er zu einem dieser typischen wütenden Vorstadtteenager. Wobei Mark die Verwirrtheit und Unsicherheit der Pubertät niemals wirklich loswurde. Er war auch heute noch wütend auf seine Eltern, weil sie so absolut nichts Besonderes waren, und deswegen hielt er mit geradezu verzweifelterKraft an der Idee fest, dass er selbst sehr wohl etwas Besonderes war und zwischen ihm und anderen Menschen ein himmelweiter Unterschied bestand. Der Gedanke, etwas Gewöhnliches zu sein, jagte ihm so furchtbare Angst ein, dass er sich selbst davon überzeugt hatte, er sei radikal anders als alle übrigen Menschen. Mark hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, aber er wusste, dass er etwas Außergewöhnliches war; er spürte diese Gewissheit in seinem tiefsten Innern.
    Er hatte etwas an sich, ein Wesensmerkmal, das anderen fehlte, das wusste er genau. Und er arbeitete an einem der wenigen Orte des heutigen Großbritanniens, wo es tatsächlich akzeptiert war, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren, wo genau das der springende Punkt war: besser zu sein als andere. Es hätte also eigentlich alles perfekt sein können. Und doch musste man sagen – und Mark war stolz darauf, dass er sich selbst nie belog –, dass eben nicht alles perfekt war. Er steckte in einem Job fest, in dem seine Fähigkeiten nicht anerkannt wurden, und arbeitete für einen Boss, der Marks Ansicht nach ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten war. Ein Boss, dessen absurde Körpergröße genauso überflüssig war wie er selbst; ein inhaltsleerer, glatter, hohlköpfiger Wichser mit Privatschulerziehung, ein Leichtgewicht und Windhund, der so tat, als wüsste er Bescheid, und der einen Job innehatte, den Mark tausendmal besser machen würde. Das Einzige, was Roger hervorragend beherrschte, war, sein eigenes Image bei seinen Vorgesetzten aufzupolieren. Davon musste man jedenfalls ausgehen, denn schließlich war er Abteilungsleiter, und man hatte ihn noch nicht gefeuert. Irgendetwas ging hinter den Kulissen vor, etwas, das Mark nicht mitbekam. Was er jedoch mit eigenen Augen sehen konnte, war die Meisterschaft, mit der Roger Lothar in den Arsch kroch. Er tat das mit einer derartigen Begeisterung, als würde er es tatsächlich genießen. Davon mal abgesehen, war er eine völlige Platzverschwendung, und Mark wusste nur zu genau, dass Roger die detaillierten mathematischen Prinzipien, auf denen die Handelsgeschäfte basierten, nur sehr oberflächlich, wennüberhaupt, nachvollziehen konnte. Roger war eine mathematische Niete, und das in einem Job, in dem es eigentlich um nichts anderes ging als Mathematik. Das war unverzeihlich.
    Mark lehnte es ab sich, sich selbst etwas vorzumachen – ein Mann von Format log sich nicht an. Roger war ein Vollidiot, und er selbst war ein Genie. Er vermoderte in seinem Job als Stellvertreter, weil Roger ihm nicht die Anerkennung gab, die ihm zustand, und das aus einem sehr simplen Grund. Wenn er das nämlich täte, wäre er als Versager entlarvt, und man würde ihn feuern oder in eine niedrigere Position versetzen. Das System funktionierte also folgendermaßen: Mark machte die ganze Arbeit, und Roger bekam die Anerkennung dafür.
    Es war an der Zeit, etwas dagegen zu tun.
    Der Zug kam in Godalming an, und er stieg aus. Sein Vater wartete auf dem Parkplatz auf ihn. Das war typisch für seinen Vater – nicht auf

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