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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Beispiel dafür, wie das Leben es manchmal schaffte, immer nur in denselben Bahnen zu verlaufen, unwandelbarer zu sein, als man es je für möglich gehalten hätte, und dann auch immer genauso weiterzugehen, mit dem einzigen Unterschied, dass es sich noch weniger veränderte als vorher. Es war unerträglich. Und wie bei so vielen unerträglichen Dingen hatte man keine andere Wahl, als es eben doch zu ertragen.
    Mary öffnete die Schiebetür zur Terrasse, die ihr Mann nach Alberts Tod für Petunia eingebaut hatte. Damals hatten sie immer noch versucht, Petunias Leben zu verändern oder zu verbessern. Das hatten sie dann irgendwann aufgegeben. Sie zündete sich eine Zigarette an. Nach zehn Jahren Abstinenz hatte sie wieder mit dem Rauchen angefangen, jetzt, wo sie sich um ihre sterbende Mutter kümmern musste. Die Sucht war zurückgekehrt, kaum dass sie hier eingezogen war, und weil ihr Mann nicht da war, um sie davon abzuhalten, hatte sie dem Bedürfnis einfach nachgegeben. Nach Petunias Tod würde sie wieder damit aufhören müssen, und zwar noch bevor sie wieder nach Hause kam. Alan würde sie umbringen, falls sie in seiner Gegenwart wieder rauchte. Nachdem er selbst damit aufgehört hatte, war er ein geradezu fanatischer Nichtraucher geworden. Aber jetzt rauchte sie, weil sie eben einfach eine Kippe nötig hatte, und auch, weil sie etwas brauchte, worüber sie nachdenken konnte, etwas, das mit ihrem eigenen Leben zu tun hatte und nicht mit dem ihrer Mutter. Sie hatte sich damit für die Zukunft eine Aufgabe geschaffen – und es war durchaus keine leichte Aufgabe. Das erste Mal, als sie mit dem Rauchen aufgehört hatte, war das mit das Schwerste gewesen, was sie in ihrem Leben je gemacht hatte. Aber dadurch gab es etwas, das sie tun musste, wenn sie diese andere unglaublich schwierige Sache erst einmal hinter sich gebracht hatte. Den Tod ihrer Mutter.
    Mary zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückte sie auf dem Terrassenboden aus. Dann machte sie sich auf den Weg nach oben, um dort aufzuräumen.

34
    Die Mittelmäßigkeit der bürgerlichen Klasse.
    Die Mittelmäßigkeit der Vorstädte.
    Eine Kultur, die ganz schamlos dem Durchschnitt zu Füßen liegt.
    Eine Gesellschaft, die nur im Sport eine Elite duldet.
    Eine Kultur fetter fauler Menschen, die Reality-TV glotzen, sich für nichts anderes interessieren als für Stars und Promis, die auf der Straße essen und nur ihren Mund zu öffnen brauchen, damit aller Welt klar wird, wie gewöhnlich sie sind.
    Der Finanzmarkt in der Londoner City ist einer der wenigen Orte, an denen diese Tyrannenherrschaft des Mittelmaßes, der Selbstzufriedenheit, des Kleinlichen, Durchschnittlichen, Banalen und Gewöhnlichen in Frage gestellt wird. Die City ist einer der wenigen Orte, wo man noch etwas Außergewöhnliches sein darf. Nein, es ist sogar noch besser als das. Die City ist fast der einzige Ort, wo man tatsächlich unter Beweis stellen muss, dass man etwas Außergewöhnliches ist. Es ist egal, was man behauptet zu sein; Behauptungen sind bedeutungslos und haben keinerlei Konsequenzen. Man muss es beweisen.
    Das waren die Dinge, über die Rogers Stellvertreter nachdachte, während er mit dem Zug, ratterdiratterdiratter, zu seinen Eltern nach Godalming fuhr. Die Frühlingssonne schien, und im Abteil war es stickig und warm. Mark saß in der ersten Klasse. Er hatte zwar keinen Fahrschein dafür, aber er wusste aus Erfahrung, dass ihn auf dieser fünfzigminütigen Fahrt niemand kontrollieren würde. Sein BlackBerry lag vor ihm auf dem Tisch, und am Fenster zog die Heidelandschaft von Surrey vorbei, die immer viel wilder und trostloser aussah, als sie es in Wirklichkeit war. Es war Sonntag, und er fuhr nach Hause, um mal wieder tief in die Mittelmäßigkeiteinzutauchen. Einmal im Monat hatte er »die Pflicht«, sich an jener fürchterlich spießigen, erdrückenden, bürgerlichen Monstrosität zu beteiligen, die auch Sonntagsessen genannt wurde. Zu diesen Gelegenheiten zog sich Mark mit voller Absicht entweder viel zu schlampig oder viel zu elegant an. Das letzte Mal hatte er zerrissene Jeans und ein T-Shirt mit einem Spermafleck am unteren linken Saum getragen (auch wenn er der Einzige gewesen war, der gewusst hatte, woraus dieser Fleck bestand). Heute trug er einen Anzug, der 1500 £ gekostet hatte, zusammen mit einem wahnsinnig teuren Hemd und noch viel teureren Sportschuhen. Wenn ihm das Glück hold war, würde dieses Ensemble seine Mutter dazu veranlassen, mit ihrer

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