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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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den Bahnsteig zu kommen, um ihn dort zu begrüßen, sondern draußen zu warten und mit seiner braunen Hose neben seinem braunen Volvo zu stehen. Auch sein Gesicht war ein wenig braun; er hatte wohl viel Zeit in der Sonne verbracht. Aber in Marks Augen wirkte er dadurch nur noch verschwommener und farbloser. Da war es wieder, das Mittelmaß. Und all die anderen Dinge, die er mit so viel Mühe und harter Arbeit hinter sich gelassen hatte.
    »Mark!«, sagte sein Vater, der zu Beginn immer sehr kräftig und überzeugend klang, dann jedoch kläglich verkümmerte. »Hallo, es ist, äh, schön, dich zu sehen.« Er wackelte mit den Armen in einer Geste, die besser zu einem wesentlich jüngeren Mann gepasst hätte. Er schien sich damit zum Tragen des Gepäcks anbieten zu wollen; aber Mark hatte natürlich keins, weil er nur zum Mittagessen gekommen war.
    Mark stieg ins Auto und saß während der zwanzigminütigen Fahrt stumm da, während sein Vater sich damit abquälte, ein Gesprächsthema zu finden. Dann erreichten sie das Haus, in dem er aufgewachsen war und das seine Eltern immer nur als ihren»Landhausbungalow« bezeichneten. Er bekam jedes Mal das kalte Kotzen, wenn sie diesen Ausdruck benutzten. Sein Vater hielt vor der Garage. Marks Schwester, die im Vorgarten in einem Liegestuhl gelegen und in einer Frauenzeitschrift gelesen hatte, sprang auf und kam auf ihn zugelaufen. Sie war achtzehn und somit elf Jahre jünger als er. Claire hatte die hellsten Haare in der ganzen Familie und war noch immer diesen Babyspeck nicht losgeworden, der auch leicht zu Erwachsenenspeck werden konnte, wenn sie nicht bald etwas dagegen unternahm. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, was er widerwillig, aber ohne Gegenwehr erduldete, küsste ihn einige Male und verwuschelte dann heftig seine Haare, was er – wie sie sehr wohl wusste – hasste wie die Pest.
    »Marky Marky Marky«, sagte sie. »Und, hast du endlich ’ne Freundin?«
    Er strich sich die Haare wieder glatt.
    »Hör auf, dich zu benehmen, als wärst du erst zwölf«, sagte er.
    »Aber in deiner Gegenwart fühle ich mich immer wie zwölf, großer Bruder«, sagte Claire, tanzte auf Zehenspitzen um die eigene Achse, machte affektierte Gesten und tat so, als spielte sie an einem nicht existenten Pferdeschwanz herum. Sie hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, ihn rasend zu machen, und schaffte es dadurch gleichzeitig, ein für alle Mal zu beweisen, dass ein Teil von ihm nach wie vor ein kleiner wütender Teenager war. Das war auch einer der Gründe, warum er es hasste, nach Hause zu fahren und dort Zeit zu verbringen: Es gab ihm immer das Gefühl festzustecken. In Godalming verhielten sich alle so, als sei er erst fünfzehn, er selbst miteingeschlossen.
    Seine Mutter kam zur Eingangstür. Er hatte sich auf das, was nun passieren würde, eingehend vorbereitet, es in seinem Kopf immer wieder geübt und versucht, sich dagegen immun zu machen. Aber das half ihm nicht im Geringsten. Genau wie sein Vater, genau wie immer, begann auch sie mit großem Schwung und verkümmerte dann jämmerlich.
    »Mark!«, sagte sie. »Du siehst …« – und hierbei rutschte ihr Blickseitwärts und ihre Bestimmtheit verebbte – »… gut aus?« Sie beendete ihren Satz, als sei er eine Frage, und ihre Augen flackerten unsicher. Mark sagte sich, dass jede Sekunde, die verstrich, auch diesen Moment seinem Ende näher brachte. Er würde vorübergehen, so wie alles im Leben. Und morgen würde er in Aktion treten. Oder um es in den Worten von Andrew Carnegie zu sagen: »Ein aufstrebender Mann muss etwas Außergewöhnliches tun, etwas, das über die Reichweite seines speziellen Ressorts weit hinausgeht. ER MUSS DIE AUFMERKSAMKEIT AUF SICH ZIEHEN.«

35
    »Ich habe ein neues System, um den islamischen Kalender zu organisieren«, sagte Shahid in die Runde. Mit ihm am Tisch saßen Ahmed, Usman, Rohinka, Fatima und Mohammed. »Statt den Kalender mit der Hidschra zu beginnen, fangen wir die Zeitrechnung einfach mit dem Tag an, an dem dieser Vollidiot Iqbal in meine Wohnung eingezogen ist. Wir haben also nicht das Jahr 1428, sondern tatsächlich erst den Tag 95. Das wäre auf jeden Fall logisch. Iqbal ist langweilig genug, um eine fundamentale Störung des Raum-Zeit-Kontinuums zu bewirken. Seine Langweiligkeit geht so weit, dass man ihn mit Fug und Recht als wandelndes Unrecht bezeichnen könnte. Denn überall, wo er hingeht, erhebt sich ein großes Klagegeschrei, weil die Menschen nämlich feststellen, dass sie

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