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Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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waren nicht abgestürzt, der Teppich nicht abgebrannt. Und Jurij ging es schon wesentlich besser. Er spielte mit den Nachbarn Halloween, indem er mit einer schwarzen Kapuze über dem Kopf auf dem Balkon stand und alle Fußgänger grüßte. Nach ein paar Tagen waren alle wieder vollkommen fit.
     
    Wenn die Gladiolen blühen
     
    Aus Sachsen, Bayern und der Schweiz bekamen wir regelmäßig Informationen über Leute, die nach unserem Vorbild Tanzpartys mit russischer Musik organisierten und sie genau wie wir »Russendisko« nannten. Sie legten die gleiche Musik auf, in einem ähnlichen Ambiente, und manche sogar mit Erfolg. Kürzlich bekamen wir einen Anruf von einem mit uns mitleidenden Unbekannten aus Wien: »Grüß Gott, ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass es hier bei uns in Wien eine Veranstaltungshalle gibt, die eine Veranstaltung organisiert, die Russendisko heißt, und da dachte ich mir, das würde Sie interessieren.«
    Jurij ärgerte sich, und ich fürchtete ebenfalls, bald arbeitslos zu werden. Wir fassten unsere Bedenken in einem Schreiben an das Patentamt zusammen: »Das geht doch nicht, wenn jeder DJ-Arsch seine Mucke >Russendisko< nennen darf! Darunter leiden die Qualität und die Autorität. Und aus diesem Grund wollen wir unseren wertvollen Namen schützen!«, schrieben wir.
    Die Behörde wollte aber unsere Sorgen nicht verstehen: »Was soll denn das sein, eine Russendisko? Und was für eine Qualität? Wir können uns nichts Rechtes darunter vorstellen«, schrieben sie uns zurück. »Russendisko« sei außerdem keine neue Wortschöpfung, sondern Normaldeutsch und wäre deswegen für alle Menschen benutzbar. Das bedeutete: Selbstverständlich darf jeder DJ-Arsch seine Mugge so nennen, wie er will, ob »Russendisko« oder »Deutschendisko« oder »Franzosendisko«. Dem Patentamt war das vollkommen wurscht.
    Uns überfielen daraufhin sofort Selbstzweifel. Vielleicht hatte das Patentamt Recht? Ob wir tatsächlich so wenig außergewöhnlich waren? Ab sofort gaben wir uns Mühe, unseren Veranstaltungen noch mehr Profil zu geben: mit einzigartigen Ansprachen an das Publikum in Russisch und Deutsch, mit Tanz und Gesang auf der Bühne. Jurij erwarb auf dem Flohmarkt für ein paar Euro mehrere Kilo Blasinstrumente mit einem unverwechselbar hässlichen Klang: Kindertrompeten und Melodikas, die wir bei der nächsten Russendisko sofort zu Tode geblasen haben.
    »Das Beste aus den Sechziger-, Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren, Lieder, die Sie im Schlaf verfolgen werden«, schrien wir abwechselnd ins Mikrofon. Die Leute wunderten sich, betrachteten diese Veränderungen jedoch mit Nachsicht, und einige dachten wahrscheinlich, wir stünden unter Drogen. Doch wir waren nur von unserer eigenen Kreativität und Authentizität berauscht. Wir hatten begriffen, was das Wichtigste am Beruf eines DJs ist: niemals stehen bleiben, sich ständig weiterentwickeln, rappen lernen, selbst Musik machen!
    Die Früchte unserer Bemühungen ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Unsere Sampler bekamen nur gute Kritiken. Eine namhafte deutsche Musikzeitschrift lud uns ein, für ihre Rubrik »Platten vor Gericht« die Neuerscheinungen des Jahres zu bewerten. Sie schickten uns zwei Dutzend CDs, alles neue, unbekannte Namen, die sich in alle möglichen Richtungen profilieren wollten — Disko, Rap und Heavy Metal. Gut gelaunt schoben wir die erste CD in den Player. Wir wünschten uns von ganzem Herzen, neue, interessante Musiker zu entdecken und jedem von ihnen ein paar aufmunternde Sätze mit auf den Weg zu geben. Doch bald hatten wir das Gefühl, wir würden Radio hören oder eine von anderen gemachte Russendisko besuchen, ohne Laune, ohne Trompeten. Die einen Musiker spielten wie die Strokes, die anderen wie AIR, und die Rapper waren allesamt kleine böse Eminems. Ob sie ihre Musik wirklich mögen oder nur pragmatisch alles spielen, was gerade angesagt ist?, fragten wir uns frustriert. Nur ein Mädchen namens Isobel überzeugte uns. Sie sang so außerirdisch melancholisch, eindringlich und verdorben süß wie der Soundtrack zu einem guten alten Pornofilm. Isobel bekam von uns die beste Note. Für alle anderen hatten wir nur Gift und Galle übrig: »Hört auf, euch am aktuellen MTV-Programm zu orientieren, werdet frei und kreativ!«
    Abschließend zu dieser Bewertung mussten wir als Richter angeben, mit welcher Musik wir selbst aufgewachsen waren. Unter der Rubrik »Platten, die Sie geprägt haben« schrieben wir:

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