Karaoke
Robeson. Das Treffen fand in einem leeren Restaurant statt. Links und rechts von dem Sänger saßen die Fans, draußen standen andere Fans, die für die Sicherheit des Sängers sorgten.
»Wie geht es dir, mein Freund? Du bist so dünn geworden, ich dagegen werde immer dicker!« Paul Robeson umarmte seinen abgemagerten Kameraden.
»Mir geht es eigentlich ganz gut«, antwortete der Schauspieler verlegen.
»Und wie geht es unserem gemeinsamen Freund, dem Regisseur X?«, fragte Paul Robeson.
»Auch ganz gut, eigentlich«, antwortete der Schauspieler Y. Gleichzeitig machte er Paul Robeson Zeichen. Er zwinkerte mit den Augenwimpern, mit den Nasenlöchern, mit dem kleinen Finger an der rechten Hand, er wackelte sogar mit den Ohren, um die geheime Botschaft zu
übermitteln: Großer Alarm! Unser alter Freund der Regisseur ist tot, vernichtet, zusammen mit Millionen anderen alten Freunden, ich sitze im Lager, alles ist zum Teufel!
Paul Robeson bemerkte nichts. Sie tranken zusammen einen Wodka auf Stalins Wohl, anschließend wurde der Schauspieler wieder ins Lager gebracht, und Paul Robeson kehrte nach Amerika zurück. Kurz darauf starb Stalin, und sein Nachfolger Chruschtschow fing an, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuklären. Viele vom Regime exekutierte Menschen wurden rehabilitiert. Einige wurden sogar exhumiert und auf den hoch geschätzten Friedhöfen Moskaus mit allen Ehren noch einmal begraben. Der Schauspieler Y aber überlebte das Lager. Er kam nach Hause zurück und schrieb seine Memoiren, in denen er gnadenlos über Paul Robeson herzog: »Dieser schwarze Idiot!«, tobte er, »wie kann man nur so dämlich sein, so blauäugig und naiv! Naivität ist schlimmer als Diebstahl und muss als schwerwiegendes Verbrechen bestraft werden«, schrieb er.
Nach Aussagen seiner Familienangehörigen verfiel Paul Robeson, als er von den Verbrechen des Stalinismus erfuhr, in eine tiefe, zwei Monate dauernde Depression. Danach sang er nur noch Blues.
O Baby, o Baby, Du bist ein Murmeltier, Du bist ein Vögelein — Während du schläfst. Hier drin ist's so dunkel, Hier drin ist's so kalt, Zerschlagt das Fenster, denn ich bin zu alt.
Pünktlich zum siebenundachtzigsten Jahrestag der Großen Oktoberrevolution beschlossen wir, das vierjährige Bestehen der »Russendisko« mit großem Pomp zu feiern: Das Ostberliner Theaterhaus »Volksbühne« stellte uns seine Räume zur Verfügung, und ein festliches Programm wurde ausgetüftelt: eine aufrüttelnde Lesung, ein singendes Fräuleinwunder mit ukrainischer Folklore, die zwölfköpfige deutsch
russisch-ungarische Band Rot Front und danach wildes Tanzen zur Russendisko bis zum bitteren Ende.
Doch das Schicksal war diesmal hart zu uns. Bereits eine Woche nach
seinem Umzug in die Paul-Robeson-Straße und kurz vor dem geplanten
Termin holte sich DJ Jurij eine seltsame Grippe. Sie zeichnete sich
durch merkwürdige Begleiterscheinungen aus: Juckreiz, rote Flecken
hinter den Ohren und Fieber. Der Arzt war unfähig, eine solide Diagnose zu stellen. Er meinte, unser Freund würde an einer speziellen
Kratzgrippe leiden. Erst am Tag der Veranstaltung kam die grausame
Wahrheit ans Licht: Jurij hatte Windpocken. Doch er benahm sich wie
ein Held: Auf gar keinen Fall wollte er uns hängen lassen und erklärte
sich bereit, trotz der schweren Krankheit bei den Feierlichkeiten mitzuwirken. Irgendwelche Kinder waren bei unserem Fest nicht zu erwarten, und alle, die schon einmal im Kindergarten Windpocken gehabt
hatten, konnten sich sowieso nicht mehr anstecken. Meine Frau war
sich sicher, dass sie schon mal als Kind darunter gelitten hatte. Ich dagegen konnte mich an keine Pocken erinnern. Vom Kindergarten war
mir nur Grießbrei in Erinnerung geblieben. Ich schloss die Augen und
machte eine Reise in die Vergangenheit:
Ein niedriges Haus mit großen Fenstern und einer Veranda, dort
wurden die kleinen Kinder an eine dicke Tante abgegeben. Sie weinten,
sie wollten nicht bei der Tante bleiben, sie streckten ihre kleinen Hände
den Eltern entgegen, die aber schnell in der Morgendämmerung verschwanden. Dann sah ich nur noch Grießbrei vor mir, den die Erzieherin aus einem Riesentopf in die Teller schüttete. Alle aßen, nur ich
nicht.
»Iss«, sagte die Tante.
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Probier es, es wird dir schmecken«, drängte sie. »Alle mögen das!«
Ich schwieg.
»Du bist einfach noch zu klein und zu dumm für den Brei«, stellte die
Erzieherin sachlich fest, »aber mit dem Alter
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