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Karaoke

Titel: Karaoke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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kommt der Appetit.«
    Ich aß nichts im Kindergarten. Doch an irgendwelche Krankheiten
aus der Zeit konnte ich mich auch nicht erinnern, nur an Grießbrei. Ich
    spürte, dass ich ihn bis heute, fünfunddreißig Jahre später, noch nicht mochte.
    Um etwas über meine Windpocken zu erfahren, rief ich meine Mutter an.
    »Ach«, seufzte sie, »das ist doch schon so lange her!«
    »Aber vielleicht kannst du dich noch daran erinnern, ob ich schon mal so ein rotes Gesicht hatte, vor fünfunddreißig Jahren?«
    »Ein rotes Gesicht? Die ganze Zeit eigentlich«, sagte meine Mutter. »Ja, also einmal hattest du. Mumps!«
    »Das ist schon mal gut«, sagte ich.
    »Dann hattest du einmal. Masern!«
    »Ich schreibe alles auf«, bestätigte ich.
    Mühsam, mit Pausen, offenbarte mir meine Mutter die verlorenen Geheimnisse meiner Kindheit. »Keuchhusten! Scharlach! Windpocken! Du hattest alles, mein Sohn! Eine musterhafte, vollkommene Kindheit hattest du!«
    Ich atmete auf. Man musste nun bloß noch im Theater für die entsprechenden Quarantäne-Maßnahmen sorgen.
    Bereits während der Lesung erklärte ich dem Publikum die missliche Lage unseres DJs und bat alle, die schon einmal Windpocken gehabt hatten, zum Tanzen auf die Tanzfläche zu kommen, die anderen durften sich im Foyer entspannen, Bier trinken und der Musik lauschen. Das zahlreich erschienene Publikum teilte sich sogleich in zwei ungleiche Gruppen auf. Die, die schon einmal Windpocken gehabt hatten, sprangen wie verrückt im grünen Salon nach den Rhythmen unserer Musik herum. »Schneller!«, schrien sie in Richtung DJ. »Schneller, härter, lauter!« Die, die noch keine Windpocken gehabt hatten, saßen im Foyer und warteten geduldig, bis sie welche kriegten. Nach einigen Stunden dämmerte der Leitung der »Volksbühne« langsam, dass sie irgendetwas in ihr schickes Haus eingeladen hatten, das möglicherweise nicht gut für den Parkettfußboden war, ebenso wenig für die sauberen Wände und die neuen Teppiche. Uns war diese Situation nicht neu. Wir hatten bereits einige Theaterhäuser auf dem Gewissen, wollten aber die
    Veranstaltung im Vorfeld nicht unnötig verkomplizieren. Die verantwortliche Dramaturgin kam zu uns ans DJ-Pult.
    »Könntet ihr vielleicht den Leuten übers Mikrofon sagen, dass sie nicht so trampeln, sonst bricht womöglich der Fußboden durch«, meinte sie.
    »Nein, das ist leider ganz unmöglich!«, antworteten wir.
    »Dann soll doch der Boden einbrechen, ist vielleicht auch besser so«, meinte sie philosophisch. Fünf Minuten später kam sie aber wieder.
    »Könntet ihr den Leuten im Foyer übers Mikrofon mitteilen, dass sie ihre Zigarettenkippen nicht auf den Teppich werfen sollen, sonst brennt der ab!«
    »Nein, das ist uns leider auch nicht möglich«, mussten wir sie enttäuschen.
    »Ach, soll doch der Teppich brennen«, winkte die Dramaturgin resigniert ab und verschwand in der Menge.
    Die, die schon Windpocken gehabt hatten, trampelten immer weiter auf den Boden, bis in der unteren Etage die großen Kronleuchter des Foyers ins Schwanken kamen. Sie schaukelten gefährlich über den Köpfen derjenigen, die noch keine Windpocken gehabt hatten, und verminderten so deren Chancen, welche zu bekommen.
    Ich wollte meinem Kollegen raten, langsam auf Reggae-Rhythmen umzusteigen, doch Jurij war schon nicht mehr da. Er war längst nach Hause gegangen — wegen seiner Windpocken. Die Musik lief aber auf geheimnisvolle Weise weiter, ohne dass jemand sie steuerte. Ein Wunder! Eine Gruppe deutscher Studenten hüpfte vor mir auf und ab und schrie: »Pocken, Pocken!«
    Ich kam ins Grübeln. Ist es ein Lied, das sie möglicherweise bei mir bestellen wollen? Von irgendeiner Kinderband, die ich nicht kannte? Tattoo oder so ähnlich? Zwei große, mir unbekannte Blondinen tanzten auf der Bühne zu ihrem eigenen Rhythmus, und ein verrückt gewordener Gast rannte durch den Saal mit einer Klobrille um den Hals, womit er alle provozieren wollte. Vor lauter Aufregung trank ich fünf Tequila hintereinander, von und mit unbekannten freiwilligen Spendern, danach betrachtete ich die Party mit großer Nachsicht und Milde.
    Später, gegen Morgen, träumte ich, die ganze Stadt habe Windpocken, nur ich nicht. Menschen mit eingesalbten Gesichtern jagten mich durch die Straßen, sie zeigten mit Fingern auf mich und schrien: »Das ist er! Das ist er!«
    Am nächsten Morgen rief ich beim Theater an. Der Abend war ordentlich zu Ende gegangen, der Boden hatte gehalten, die Kronleuchter

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