Karaoke
»Die Best of des Chors der sowjetischen Armee«. Das war gewiss eine Übertreibung. Keiner von uns hatte jemals eine solche Platte besessen, und es konnte im Grunde bei diesem Sängerkollektiv auch gar kein Best of geben, weil
alles, was es sang, gleich klang. So wie auch die Stiefel und Mützen der singenden Offiziere alle gleich glänzten. Voll ausgeschrieben heißt dieses Kollektiv »Das doppelte Rotbanner — Akademisches Ensemble des Gesangs und des Tanzes der russländischen Armee zu Ehren des General-Majors A.V. Alexandrow«, im Volksmund kurz »Chor der sowjetischen Armee« genannt.
Das Ensemble war gleich nach der Revolution entstanden, infolge der umfassenden Verstaatlichungen. Auch die Kunst musste die Interessen des Staates verteidigen, zur Waffe des Proletariats werden, wie die damalige Kulturpolitik es forderte. Der Chor der sowjetischen Armee verscheuchte andere weniger proletarische Gesangskollektive von der Bühne. In den Zwanzigerjahren waren es zunächst zwölf Offiziere, in den Dreißigerjahren dann zweihundertvierundsiebzig, danach hat keiner mehr gezählt. Zu meiner Zeit präsentierte der Chor an jedem Feiertag die unüberwindliche Stärke des Staates im Fernsehen. Seine Aufgabe war es, die Fernsehzuschauer wach zu halten. Das Bild von gemeinsam singenden Obersten und Majoren hat bei uns damals noch jungen Pazifisten ständig für schlechte Laune an den Feiertagen gesorgt. Ich möchte dieses Ensemble trotzdem nicht schwarz malen. Vielleicht hatte der Chor der sowjetischen Armee damals eine große Fangemeinde. Vielleicht konnten sich die Mitglieder vor jedem Auftritt vor durchgeknallten Mädels kaum retten, die ihnen mit spitzen Zähnen alle ihre Schulterklappen abreißen wollten. Vielleicht mussten sie ihre Stiefel ins stöhnende Publikum schmeißen, um die Leute wieder zu beruhigen. Doch ich persönlich kannte niemanden, der etwas für diese singenden Kalten Krieger übrig hatte. Wir rätselten, ob die Tenöre tatsächlich außer Singen auch noch Schießübungen machen mussten und ob der Dirigent eine Knarre trug. Doch dieses Kollektiv hat uns auf die Dauer tatsächlich geprägt.
Als meine Heimat mit dem strengen Sozialismus Schluss machte und alles zu Gunsten des wilden Kapitalismus privatisierte, wurde der Platz in dem festlichen russischen Fernsehprogramm neu belegt. Um satte Quoten zu erreichen, mussten die Fernsehmacher auf die edlen Offiziere in ihren öden sowjetolivfarbenen Uniformen verzichten und stattdessen junge, bunte Bestien heranschaffen, die der neuen Zeit besser entsprachen. Diese Bestien konnten zur Not auch mal oben ohne sin
gen, während die Offiziere es sich nicht einmal erlauben konnten, ihre Mützen abzulegen.
Der wilde Kapitalismus hat den Chor aber nicht nur gedemütigt, sondern ihm zugleich auch einen ungeheuren Kreativitätsschub gegeben. Die Offiziere gründeten eine Wir-AG, lernten zeitgenössische Lieder und konnten bald in beinahe allen Sprachen der Welt singen. Mit ihren plötzlich ulkig gewordenen Uniformen und den kräftigen Stimmen mischten sie mächtig im kapitalistischen Musikgeschäft mit. Sie sangen mit den Leningrad Cowboys »Kaiinka Malinka« in einer Rock-'n'-Roll- Variante und traten in Amerika und Japan auf. In Berlin standen wir einmal sogar auf derselben Bühne, anlässlich einer deutschen Wiedervereinigungsfeier im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Dort habe ich sie dann persönlich kennen gelernt. Während ich einige skurrile Geschichten über die Berliner Mauer vorlas, sang der Chor lustige deutsche Volkslieder, die niemand im Saal kannte. Ein Lied hieß zum Beispiel »Drei Mädchen und ich«. Der Solist rollte dabei sehr erotisch mit den Augen und erzählte singend, wie er einmal eine Blondine, eine Brünette und eine Rothaarige in Folge kennen gelernt hatte. Der Chor in seinem Rücken bestätigte derweil aus voller Kehle, dass er auch dabei gewesen war. Für mich war das ein Musterbeispiel an Kreativität.
Die Offiziere waren wie immer frisch rasiert, fröhlich und munter. Ich habe mich per Armeegruß mit ihnen solidarisiert und sie zugleich von allen Seiten aufmerksam studiert: Sie waren leicht verkatert, einige hatten rote Augen, andere goldene Zähne, und der Dirigent besaß tatsächlich eine Knarre, die aber nicht geladen war, wie mir später ihr Westmanager versicherte. Vor allem strahlten die Offiziere einen solchen ungebrochenen Wodka-Optimismus aus, wie er eigentlich nur in einer sozialistischen Gesellschaft möglich war.
Im
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